Marco Polo der Besessene 1
jetzt immerhin einiges Verständnis für das Widerstreben der Mongolen auf, unter einem festen Dach zu wohnen. Auch ich hatte, genauso wie mein Vater und mein Onkel, nach dem grenzenlosen Schweigen und der frischen Luft im Freien eine gewisse Vorliebe für unbegrenzten Raum und Ellbogenfreiheit entwickelt. Obwohl wir zuerst jubelten über die Erfrischung eines hammam-Bades und das anschließende Durchgeknetet-Werden und es genossen, daß uns unsere Mahlzeiten von Dienern bereitet und vorgesetzt wurden, stellten wir bald fest, daß uns der Lärm und die Aufregung und das Durcheinander des Lebens in einem festen Haus ziemlich irritierten. Die Luft kam uns dick vor und die Wände allzu nahe, und die anderen Gäste in der karwansarai fanden wir schrecklich geschwätzig. Außerdem quälte uns der allgegenwärtige Rauch in den Räumen, besonders Onkel Mafio, der ständig unter Hustenreiz litt. Aus diesem Grund blieben wir, obwohl das Gasthaus wohl geführt wurde und Mashhad eine wirklich schöne Stadt war, nur so lange, wie es brauchte, um unsere Kamele wieder gegen Pferde einzutauschen und Gerät und Reiseproviant zu ergänzen -dann setzten wir unsere Reise fort.
BALKH
Wir bewegten uns nunmehr in leicht südöstlicher Richtung, um am Rande des Karakum oder ›Schwarzer Kies‹, einer weiteren, geradenwegs östlich von Mashhad gelegenen Wüste, entlangzuziehen. Wir entschieden uns für eine Route, die über das Karabil oder ›Kalte Plateau hinwegführte, ein langgezogener Sims von besserem und begrüntem Land, der sich zwischen dem fahlen, wasserlosen Ozean des Schwarzen Kies im Norden und der öden abschüssigen Böschung der baumlosen Paropamisus -Berge im Süden hinzog.
Kürzer wäre der Weg mitten durch die Karakum-Wüste gewesen, aber die Wüste waren wir gründlich leid. Und noch leichteres Vorwärtskommen wäre es gewesen, hätten wir uns noch weiter nach Süden gehalten, durch die Täler des Paropamisus, denn dort hätten wir in einer ständigen Abfolge von Dörfern und Weilern, ja sogar Städten von beachtlicher Größe wie etwa Herat oder Maimana leicht Unterkunft gefunden, doch zogen wir es vor, die mittlere Route einzuschlagen. Immerhin waren wir das Lagern im Freien inzwischen gewöhnt, und das hochliegende Karabil-Plateau muß seinen Namen aufgrund von Vergleichen mit tiefer gelegenen und wärmeren Ländern erhalten haben, denn es herrschte selbst zu Beginn des Winters keine besonders große Kälte dort. Wir zogen einfach mehrere Hemden und pai-jamahs und abas übereinander, wie wir es brauchten, und fanden das Wetter einigermaßen erträglich.
Das Karabil bestand zum größten Teil aus eintönigem Grasland, doch fanden sich hier auch Baumgruppen -Pistazien, Zizafun, Weiden und Nadelbäume. Wir kannten zwar viele grünere und schönere Lande und sollten noch viel mehr davon kennenlernen, doch nachdem wir die Große Salzwüste durchgestanden hatten, empfanden wir sogar das mattgraue Gras und das spärliche Laubholz des Karabil als Labsal für die Augen, und unsere Pferde hatten an Futtermangel nicht zu leiden. Nach der unbelebten Wüste kam es uns vor, als wimmelte das Plateau von Wild. Da flogen ganze Völker von Wachteln und Ketten von rotbeinigen Rebhühnern auf, überall schauten Murmeltiere aus ihrem Bau hervor und pfiffen verdrossen, da wir sie durch unser Vorüberreiten störten. Es gab Zugvögel wie Gänse und Enten, die hier überwinterten oder zumindest durchkamen: eine Gänseart mit Schopfbefiederung und eine Ente mit wundervoll rotgoldenem Federkleid. Und es gab massenhaft braune Eidechsen, einige so groß -länger als mein Bein -, daß sie nicht selten unsere Pferde zum Scheuen brachten.
Wir sichteten Herden von allerlei qazel-affen und hübsche Wildesel, die dortzulande kulan genannt werden. Als wir ihrer das erste Mal ansichtig wurden, erklärte mein Vater, am liebsten würde er haltmachen, ein paar kulan einfangen und zähmen und mit zurücknehmen in den Westen, um sie dort zu verkaufen; gewiß würden sie bei weitem bessere Preise erzielen als die Maulesel, welche die Edelleute und ihre Damen als Reittiere kaufen. So ein kulan ist in der Tat so groß wie ein Maulesel, hat eine ähnlich kompakte Kopfform und den gleichen kurzen Schwanz, weist aber ein auffallend dunkelbraunes Fell mit lohfarbener Bauchbehaarung auf und ist wunderschön anzusehen. Man wird es einfach nicht müde, die Herden zu beobachten, wie sie rasch dahinsprengen und springen und alle miteinander wie auf Kommando
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