Marco Polo der Besessene 1
ist dieser Gram nicht weniger selbstsüchtig. Wir Überlebende haben den Verlust eben dieses gerade Gestorbenen zu tragen. Ihm oder ihr jedoch ist alles genommen worden -alle Menschen, die ihnen nahestanden, alles, was sie gern behalten hätten, die gesamte Welt und alle Dinge darin, und das alles in einem einzigen Augenblick -und ein solcher Verlust verdient es, laut und ausgiebig und für immer beklagt zu werden, wie wir, die zurückbleiben, es nie und nimmer fertigbringen.
Und noch einen Grund, den Tod von Aziz zu beklagen, hatte ich. Ich mußte immer an Witwe Esthers Ermahnung denken, daß der Mensch sich alles gönnen sollte, was das Leben bietet, weil er sonst auf dem Totenbett noch über die Gelegenheiten murrt, die er nicht wahrgenommen hat. Es mochte tugendhaft und lobenswert sein, zurückgewiesen zu haben, was Aziz mir geboten und damit Aziz' Keuschheit unbesudelt gelassen zu haben. Vielleicht wäre es von mir aus gesehen sündig und verwerflich gewesen, seine Keuschheit zu brechen und damit zunichte zu machen. Aber, fragte ich mich jetzt, da Aziz in jedem Falle so früh hatte ins Grab steigen müssen -welchen Unterschied hätte es da gemacht? Hätten wir uns geliebt -es hätte für ihn ein letztes - und für mich einzigartiges -Vergnügen bedeuten können: dasjenige, was Nasenloch eine »Reise über das Gewöhnliche hinaus« genannt hatte -und ob es nun harmlos oder schändlich gewesen wäre, im alles zudeckenden Salzbrei hätte es keinerlei Spur hinterlassen. Trotzdem hatte ich es abgelehnt, und wenn sich irgendwann in meinem Leben vielleicht wieder eine solche Chance bot - bestimmt nie von dem schönen Aziz. Der war dahin und die Gelegenheit vertan, und daß ich das bedauerte, geschah jetzt und nicht auf einem vermeintlichen Sterbelager.
Aber ich war am Leben. Und ich und mein Onkel und mein Vater und unsere Gefährten setzten die Reise fort, und das ist alles, was die Lebenden tun können, um den Tod zu vergessen oder ihm zu trotzen.
Wir wurden nicht mehr von irgendwelchen Karauna angegriffen und von irgendwelchen anderen Wegelagerern auch nicht; wir begegneten aber auf dem Rest unserer Wüstendurchquerung auch keinen anderen friedlichen Reisenden. Entweder unsere mongolische Eskorte war unnötig gewesen, oder aber ihre Anwesenheit hatte genügt, von irgendwelchen Belästigungen abzuschrecken. Bei den Binalud-Bergen kamen wir endlich aus den Sandniederungen heraus und klommen diese Bergkette hinauf bis nach Mashhad. Mashhad war eine schöne und angenehme Stadt, nur etwas größer als Kashan, und ihre Straßen waren von Zedrach-und Maulbeerbäumen gesäumt.
Mashhad ist eine der heiligen Städte des persischen Islam, denn hier liegt in einer reichverzierten masjid ein hochverehrter Märtyrer aus frühislamischer Zeit, der Imam Riza, begraben. Die fromme Pilgerfahrt eines Muslim nach Mashhad berechtigt diesen, seinem Namen den Ehrentitel Meshadi voranzustellen, genauso wie er nach einer Pilgerreise nach Mekka das Recht hat, sich Hajji zu nennen. Infolgedessen bestand die Mehrzahl der in der Stadt weilenden Menschen aus durchziehenden Pilgern, was zur Folge hatte, daß Mashhad mit sehr guten, sauberen und bequemen karwansarai-Gasthäusern aufwarten konnte. Unsere drei Mongolen führten uns zu einem der besten, wo auch sie die Nacht verbrachten, ehe sie am nächsten Tag kehrtmachten, um ihren Patrouillenritt durch den Dasht-e-Kavir wieder aufzunehmen.
Hier in der karwansami gewährten die Mongolen uns nochmals einen Einblick in ihre Sitten und Gebräuche. Während mein Vater, mein Onkel und ich dankbar im Gasthaus Wohnung nahmen und unser Kameltreiber Nasenloch sich im Stall bei seinen Tieren einquartierte, ließen die Mongolen es sich nicht nehmen, ihre Schlafmatten draußen mitten im Hof zu entrollen und ihre Pferde in unmittelbarer Nähe von ihnen anzuhalftern. Der Mashhader Wirt sah ihnen dieses ausgefallene Benehmen nach; andere hingegen tun das nicht. Wie ich später entdeckte, leistet eine Gruppe von Mongolen, wenn der Wirt sie auffordert, wie zivilisierte Menschen im Hausinneren zu schlafen, dieser Anordnung zwar murrend Folge, aber von der Küche der karwansarai wollen sie trotzdem nichts wissen. Sie entzünden mitten auf dem Zimmerboden ein Feuer, stellen einen Dreifuß darüber und kochen selbst. Bei Einbruch der Nacht legen sie sich jedoch nicht in die zur Verfügung stehenden Betten, sondern entrollen ihre eigenen Matten und Decken und schlafen auf dem blanken Fußboden.
Ich selbst brachte
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