Marco Polo der Besessene 1
sterben.«
»Ich... ich verstehe nicht ganz. Wie wollte man das anstellen?«
»Der nackte Leib der Toten wurde auf einem Berghang
hingelegt. Der überführte Ehebrecher wurde vor ihr angekettet,
aber so, daß er sie nicht berühren konnte. So überließ man sie
sich selbst.«
»Damit er neben ihr verhungerte7«
»Aber nein. Ihm wurde zu essen und zu trinken gereicht, und
überhaupt hatte er es ganz bequem, bis man ihn freiließ. Jetzt
ist er frei und auch noch am Leben, aber lieben tut er sie nicht
mehr.«
Ich schüttelte den Kopf. »Verzeiht, Mirza Iqbal, aber das
verstehe ich wirklich nicht.«
»Ein unbestatteter Leichnam bleibt nicht einfach so liegen. Er
verändert sich von Tag zu Tag. Am ersten Tag kommt es nur zu
einer kaum merklichen Verfärbung an jenen Stellen, an denen
zuletzt Druck ausgeübt wurde. Im Falle dieser Frau handelte es
sich um eine gewisse Marmorierung dort, wo die Hände des
Gatten sie gewürgt hatten. Der Liebhaber mußte dasitzen und
zusehen, wie die Flecken auf ihrem Fleisch erschienen.
Vielleicht war das noch nicht allzu schlimm. Aber einen Tag
später oder so beginnt der Leib einer Leiche aufgedunsen zu
werden, und noch später fängt er an zu rülpsen und auch sonst
dem in ihm entstandenen Druck auf höchst unziemliche Weise
nachzugeben. Später kommen dann die Fliegen...«
»Danke, ich fange an zu verstehen.«
»Ja, und all das mußte er mitansehen. In der Kälte dort oben
verlangsamt sich der Prozeß ein wenig, aber im Grunde ist die
Verwesung nicht aufzuhalten. Und während die Leiche verwest,
lassen die Aasgeier sich nieder, wagen sich die shaqal-Hunde
mutig näher heran und...«
»Ja, ja.«
»Innerhalb von zehn Tagen oder so, als die sterblichen Überreste sich auflösten und verflüssigten, war dem jungen Mann alle Liebe zu ihr vergangen. Jedenfalls nehmen wir das an. Er war inzwischen wahnsinnig geworden. Er ist mit einer karwan von Russniaken abgezogen, allerdings an einem Seil hinter ihrem letzten Wagen. Er lebt zwar immer noch, doch wenn Allah gnädig ist, lebt er vielleicht nicht mehr lange.«
Die karwans, die auf dem Dach der Welt überwinterten, führten alle möglichen Waren mit sich; viele davon -Seide und Gewürze, Edelsteine, Felle und Pelze -bewunderte ich, doch die meisten waren völlig neu für mich. Von einigen Handelsartikeln hatte ich bis dato noch nicht einmal gehört. Eine Samojeden-karwan zum Beispiel brachte aus dem hohen Norden in Ballen verpackte Scheiben dessen, was die Moskowiter Glas nannten. In der Tat sah es aus wie zu Rechtecken und Quadraten zurechtgeschnittenes Glas; eine jede Scheibe war armlang im Quadrat groß; nur war die Durchsichtigkeit der Scheiben durch Sprünge und andere Fehler beeinträchtigt. Ich erfuhr, daß es sich in der Tat nicht um richtiges Glas handelte, sondern um ein Produkt von noch einem weiteren merkwürdigen Gestein. Im Gegensatz zum Amiant oder Asbest, der ja zerfasert, lassen sich die Scheiben dieses Felsgesteins auseinandernehmen wie die Seiten eines Buches, nur daß diese Seiten dünn, spröde und von trüber Durchsichtigkeit waren. Dem echten Glas, wie es in Murano hergestellt wird, war es weit unterlegen, doch ist die Kunst der Glasherstellung ohnehin fast überall im Osten unbekannt, so daß das Moskowiter Glas einen annehmbaren Ersatz bot und den Samojeden, wie sie behaupteten, einen guten Preis eintrug.
Vom anderen Ende der Welt, also aus dem fernen Süden, brachte eine karwan von tamilischen Chola aus Indien schwere Säcke nach Balkh, die nichts weiter enthielten als Salz. Ich lachte über die dunkelhäutigen kleinen Männer. In Balkh hatte ich keinerlei Salzmangel bemerkt und hielt es infolgedessen für wenig ertragreich, etwas so allgemein Bekanntes wie Salz durch einen ganzen Kontinent zu schleppen. Die kleinen schüchternen Chola baten mich um Nachsicht in bezug auf ihre unterwürfige Erklärung: Es handele sich nämlich, wie sie sagten, um »Meersalz«. Ich kostete es und fand, daß es nicht anders schmeckte als anderes Salz auch. Wieder lachte ich. Da gingen sie mit ihrer Erklärung noch weiter: Meersalz besitze eine bestimmte Eigenschaft, die anderen Salzarten abgehe. Dieses Meersalz zum Würzen zu benutzen, verhindere, daß die Leute einen Kropf bekämen, und aus diesem Grund gingen sie davon aus, für ihr Meersalz einen Preis zu erzielen, der die Mühe des Transports lohne.
»Zaubersalz?« spottete ich, denn ich hatte eine Menge von diesen
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