Marco Polo der Besessene 1
wird.«
»Das hoffe ich nicht!« entfuhr es Nasenloch -um hastig
hinzuzufügen: »Nur meine persönliche Meinung, gute Herren.
Aber kein Seemann kann glücklich sein, wenn ihm plötzlich der
Mast fehlt. Zumal, wenn er noch in den besten Jahren steht,
wie Mirza Mafio -er dürfte ungefähr so alt sein wie ich.«
»Verzeiht, Hakim Mimdad, ist dieses schauerliche kala-azar
womöglich... ansteckend?«
»O, nein. Es sei denn, auch du wärest zufällig von dem jinni-
Insekt gestochen.«
»Und trotzdem«, sagte Nasenloch voller Unbehagen, »man...
man möchte es gern genau wissen. Wenn die Herren daher
keine Befehle mehr für mich haben, bitte auch ich um
Entschuldigung.«
Fort war er, und kurz darauf auch ich. Wahrscheinlich hatte der
ängstliche und abergläubische Sklave der Versicherung des
Arztes nicht geglaubt. Ich glaubte ihm zwar, aber dennoch...
Wie schon gesagt, wer einem Sterbenden beisteht, betrauert
hinterher selbstverständlich den Verlust, doch mehr noch -und
wenn auch nur insgeheim, ja, wenn vielleicht auch nur unbewußt -, noch mehr freut er sich darüber, noch am Leben zu sein. Da ich gerade Zeuge von etwas gewesen war, das man vielleicht als teilweises Sterben bezeichnen könnte, freute ich mich innerlich, eben die Teile, um die es hier ging, noch zu besitzen; und wie Nasenloch war mir daran gelegen, mich zu vergewissern, daß ich sie wirklich noch besaß. So begab ich mich schnurstracks zum Hause von Shimon.
Dort begegnete ich weder Nasenloch noch meinem Onkel; höchstwahrscheinlich war der Sklave unterwegs auf der Suche nach einem zugänglichen Knaben der kuch-i-safari, und vielleicht tat das auch Onkel Mafio. Ich selbst fragte den Juden wieder nach dem dunkelbraunen Mädchen Chiv und bekam sie
-und nahm sie mit einem Schwung, daß sie freudig überrascht Romm-Worte ausstieß -»yilo!« und »friska!« und »alo! alo! alo!« -, bei denen mich Trauer und Mitleid mit allen Eunuchen und Sodomiten und castróni und jedem anderen Krüppel erfüllte, der nie das köstliche Vergnügen kennenlernte, eine Frau den süßen Sang singen zu lassen.
Bei einem jeden meiner folgenden Besuche in Shimons Haus zu denen es ziemlich oft kam, ein-oder zweimal die Woche -, fragte ich nach Chiv. Ich war es höchlichst zufrieden, wie sie surata machte, nahm die qahwah-Farbe ihrer Haut kaum noch wahr und hatte keine Lust, die Frauen anderer Hautfarbe und Rasse auszuprobieren, die der Jude in seinem Stall hielt, denn diese konnten -was Gesicht und Farbe betraf -Chiv einfach nicht das Wasser reichen. Doch das surata-Machen war in diesem Winter nicht die einzige Abwechslung. In Buzai Gumbad ges chah immer etwas, das für mich neu und von Interesse war. Wann immer ich einen Ausbruch von Geräusch vernahm, der entweder daher rührte, daß jemand einer Katze auf den Schwanz trat, oder aber anfing, die hier übliche Musik zu spielen, nahm ich an, es sei letzteres und ging hin, um nachzusehen, was für eine Art der Unterhaltung mir winkte. Es konnte sein, daß ich auf einen mirasi oder najhaya malang stieß, doch sehr häufig war es etwas, das anzusehen schon mehr lohnte.
Ein mirasi ist nichts weiter als ein Sänger, allerdings ein Sänger besonderer Art: er trug mit seinem Gesang nichts anderes als Familiengeschichten vor. Auf Anforderung nebst zugehöriger Bezahlung hin hockte er sich vor sein sarangi -ein tW/«ähnliches Streichinstrument, das allerdings flach auf den Boden gelegt wurde -und kratzte über seine Saiten; zu dieser wimmernden Begleitung sagte er im Bibbergesang die Namen sämtlicher Vorfahren des Propheten Muhammad oder Alexander des Großen oder irgendwelcher anderer historischen Persönlichkeiten auf. Doch nach dieser Art von Vorführung verlangte es nur wenige; offenbar kannte jeder den Stammbaum der allgemein anerkannten Größen bereits auswendig. Weit häufiger wurde so ein mirasi von einer Familie in Dienst genommen, damit er die Geschichte eben dieser Familie vortrage. Manchmal, nehme ich an, leisteten sie sich diese Ausgabe nur, um die Freude zu erleben, ihren Stammbaum in Töne umgesetzt zu hören, und bisweilen auch nur, um sämtliche Nachbarn in Hörweite zu beeindrucken. Doch für gewöhnlich versicherte man sich der Künste eines mirasi, wenn man überlegte, ob man sich durch Heirat nicht mit einer anderen Familie verbinden solle -und alles daransetzte, das ehrwürdige Erbe des jungen Mannes oder des jungen Mädchens hinaussingen zu lassen, der oder die verlobt
Weitere Kostenlose Bücher