Marco Polo der Besessene 1
denken, dass Ihr meint,
ich bliebe eine lange Zeit hier.«
»Nein.« Er seufzte. »Wahrscheinlich nicht lange.«
Was er mit dieser Antwort andeutete, ließ mir die Haare zu
Berge stehen. »Und ich sage Euch nochmals, ich bin
unschuldig, alter Narr.«
Woraufhin er nicht minder laut und verächtlich antwortete:
»Warum mir das sagen, unglückseliger mamzarl Erzählt das
doch den Signori della Notfei Auch ich bin unschuldig -und
trotzdem sitze ich hier und verfaule bei lebendigem Leib.«
»Moment! Ich hab' eine Idee«, sagte ich. »Wir schmachten hier
beide wegen der Lügen und Intrigen der Dame Ilaria. Wenn wir
das beide zusammen den Signori erzählen, müßten sie doch
mißtrauisch werden, was ihre Glaubwürdigkeit und ihre
Wahrheitsliebe betrifft.«
Zweifelnd schüttelte Mordecai den Kopf. »Wem würden sie
glauben? Sie ist die Witwe eines Mannes, der ums Haar Doge
geworden wäre. Ihr seid jemand, der des Mordes angeklagt ist,
und ich einer, der wegen Wucher verurteilt wurde.«
»Ihr mögt recht haben«, sagte ich, und aller Mut sank mir. »Ein
Jammer, dass Ihr Jude seid.«
Er faßte mich scharf in sein keineswegs trübes Auge und
erklärte: »Das sagt man mir immer wieder. Warum tut Ihr das?«
»Ach... nur, dass man dem Zeugnis eines Juden von
vornherein weniger glaubt.«
»Das habe ich schon oft erfahren müssen. Und ich frage mich,
warum?«
»Nun... weil ihr unseren Herrn Jesus umgebracht habt.«
Er schnaubte und sagte: »Ich -was Ihr nicht sagt!« Wie
angewidert von mir, wandte er mir den Rücken zu, streckte sich
auf seiner Pritsche aus und zog sein wallendes Gewand um
sich. Dann murmelte er, an die Wand gerichtet: »Ich habe nur
zwei Worte zu dem Mann gesagt... zwei Worte nur...«
Dann schlief er offenbar ein.
Nachdem eine lange und bedrückende Zeit vergangen und das
Loch in der Tür dunkel geworden war, wurde diese schließlich
geräuschvoll aufgeschlossen; zwei Wachen krochen hindurch
und schleppten einen großen Kübel herein. Der alte Cartafilo
hörte auf zu schnarchen und setzte sich erwartungsvoll auf. Die
Wächter drückten ihm wie mir ein Holzbrett in die Hand und
klatschten aus dem Kübel einen klebrigen, lauwarmen Brei
darauf. Dann ließen sie ein schwaches Lämpchen zurück, ein
Schälchen Fischtran, in dem blakend ein Lumpendocht glomm,
gingen zurück und knallten die Tür hinter sich zu. Zweifelnd
blickte ich unser Essen an.
»Grütze«, erklärte Mordecai mir gierig und stopfte sie sich mit
zwei Fingern in den Mund. »Ist zwar ein Holosh, aber Ihr tätet
gut daran, sie zu essen. Es ist die einzige Mahlzeit am Tag, die
wir bekommen. Sonst bekommt Ihr nichts.«
»Ich habe keinen Hunger«, sagte ich. »Ihr könnt meine haben.«
Fast hätte er sie mir entrissen, und schmatzend verzehrte er
beide Portionen. Nachdem er das getan hatte, setzte er sich hin
und saugte geräuschvoll an den Zähnen, als wolle er sich nicht
das geringste entgehen lassen. Unter schorfigen Brauen hervor
blickte er mich an und sagte schließlich:
»Was würdet Ihr für gewöhnlich zu Abend essen?«
»Nun... vielleicht einen Teller tagiadele mit persuto... und zum
Trinken einen zabagion...«
»Bongusto«, sagte er sardonisch. »Mit so feinen Dingen kann
ich zwar nicht aufwarten, aber vielleicht mögt Ihr einige von
diesen.« Bei diesen Worten fuhr er suchend in seinem Gewand
herum. »Die tolerante venezianische Gesetzgebung gestattet
es mir, selbst im Gefängnis ein paar religiöse Dinge zu
beachten.« Mir war unerfindlich, was das mit dem viereckigen
weißen Gebäck zu tun hätte, das er zum Vorschein brachte und
mir reichte. Gleichwohl aß ich es dankbar, obwohl es eigentlich
nach nichts schmeckte, und ich dankte ihm.
Als am nächsten Abend Essenszeit war, hatte ich einen
solchen Hunger, dass ich nicht mehr wählerisch war. Vermutlich
hätte ich die Gefängnisgrütze auch gegessen, weil sie so etwas
wie Abwechslung bedeutete, denn sonst gab es nichts zu tun
als dazusitzen, auf einer Pritsche ohne jedes Bettzeug zu
schlafen, die zwei oder drei Schritte zu machen, welche die
Zelle zu machen erlaubte, und sich gelegentlich mit Cartafilo zu
unterhalten. Aber genau so vergingen die Tage, einer nach dem anderen, unterbrochen nur durch das Hell-und Dunkelwerden des Türlochs, das täglich dreimalige Gebet des zudio und die Ankunft des abscheulichen Essens am Abend.
Vielleicht war das
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