Marco Polo der Besessene 1
Weisheit, die da lautet: Die Gesetze Venedigs sind von erhabener Gerechtigkeit und werden gewissenhaft beachtet... für die Dauer einer Woche. Gebt Euch keinen allzu hochfliegenden Hoffnungen hin!«
»Ich hätte größere Hoffnungen, wenn ich mehr Hilfe hätte«, erklärte ich. »Und Ihr könntet uns beiden helfen. Überlaßt Fra Ugo nur jene Briefe, die Ihr besitzt -soll er sie doch als Beweis vorbringen. Dann fiele zumindest ein Schatten des Verdachts auf die saubere Dame samt ihrem Geliebten.«
Er sah mich aus seinen dunklen Brombeeraugen an, kratzte sich nachdenklich den verfilzten Bart und sagte: »Ihr meint, das wäre gleichsam Christenpflicht?«
»Aber gewiß doch, ja. Um mir das Leben zu retten und Euch die Freiheit zu verschaffen. Jedenfalls sehe ich nichts Unchristliches darin.«
»Dann muß ich leider sagen, dass ich einer anderen Moral anhänge; denn mir ist das unmöglich. Ich habe das nicht getan, um mich vor der Auspeitschung zu bewahren, und werde es auch für uns beide nicht tun.«
Ungläubig starrte ich ihn an: »Aber warum um alles in der Welt
nicht?« »Mein Gewerbe beruht auf Vertrauen. Nur darauf gründet es sich. Ich bin der einzige Geldverleiher, der derlei Dokumente als Pfand nimmt. Das kann ich nur deshalb tun, weil ich meinerseits darauf vertraue, dass meine Klienten das Darlehen samt aufgelaufener Zinsen auch wirklich zurückzahlen. Die Klienten ihrerseits verpfänden solche Papiere nur deshalb bei mir, weil sie sich darauf verlassen, dass ich den Inhalt nie preisgebe. Meint Ihr, Frauen würden sonst Liebesbriefe aus der Hand geben?«
»Aber wie ich Euch schon gesagt habe, alter Mann: Kein Mensch traut einem Juden. Bedenkt doch nur, wie die Dame Ilaria Euch Euer Vertrauen mit Verrat gedankt hat. Ist das nicht Beweis genug dafür, dass sie Euch nicht für vertrauenswürdig hielt?«
»Gewiß beweist das etwas«, sagte er mit schief verzogenem Mund. »Aber wenn ich das in mich gesetzte Vertrauen auch nur ein einziges Mal enttäusche -und sei es auch als Reaktion auf die schändlichste Provokation -, kann ich den von mir erwählten Beruf an den Nagel hängen. Nicht, weil andere mich für verachtenswert hielten, sondern weil ich es täte.«
»Welchen Beruf, alter Narr, der Ihr seid? Es ist doch möglich, dass Ihr für den Rest Eures Lebens hier eingekerkert bleibt. Das habt Ihr selbst gesagt! Ihr könnt Euch nicht an irgendwelche Grundsätze halten...«
»Ich kann mich an mein Gewissen halten. Das mag ein geringer Trost sein, aber es ist der einzige, der mir geblieben ist: nämlich der, hier zu sitzen, meine Floh- und Wanzenstiche zu kratzen, zuzusehen, wie mein einst üppig im Fleisch stehender Körper nur mehr Haut und Knochen ist -und mich
gegenüber der christlichen Moral überlegen zu fühlen, die mich
hierhergebracht hat.«
»Flöhen könnt Ihr Euch draußen genauso gut wie hier«, fauchte
ich ihn an.
»Zito! Genug! Narren zu Weisen machen zu wollen, ist ein
töricht Unterfangen! Wir wollen nicht weiter darüber reden.
Schaut, mein Junge, hier auf dem Boden sind zwei Spinnen,
große fette Spinnen. Wollen wir ein Wettrennen mit ihnen
veranstalten und unermeßliche Reichtümer dagegen verwetten,
wessen Spinne gewinnt. Ihr könnt sie Euch aussuchen...«
Weitere Zeit verging, und dann kam Bruder Ugo wieder, tauchte
gewissermaßen durch die niedrige Türluke hindurch auf. Mit
umdüsterter Stirn wartete ich, dass er etwas genauso
Entmutigendes sagte wie voriges Mal, doch was er dann
schließlich sagte, war überwältigend :
»Euer Vater und sein Bruder sind nach Venedig
zurückgekehrt.«
»Was?« Ich rang nach Atem, konnte es einfach nicht fassen.
»Ihr meint, ihre Leichen sind hierhergebracht worden, damit sie
hier beigesetzt werden? Zur Bestattung in der Heimaterde?«
»Ich meine, sie sind hier. Heil und lebendig.«
»Lebendig? Nachdem sie fast zehn Jahre lang nichts von sich
haben hören lassen?«
»Jawohl. Alle ihre Bekannten sind genauso wie vom Donner
gerührt, wie Ihr es seid. Die ganze Zunft der Kaufleute redet
von nichts anderem. Es heißt, sie trügen eine Botschaft aus der
fernen Tatarei zum Papst in Rom. Doch zum Glück -zu Eurem
Glück, junger Messer Marco -sind sie erst nach Venedig
gekommen, um von hier aus nach Rom weiterzureisen.«
»Warum zu meinem Glück?« fragte ich, und mir zitterten die
Knie.
»Hätten sie denn zu einem günstigeren Augenblick kommen
können? In diesem Augenblick sind sie
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