Marco Polo der Besessene 1
ganze für Mordecai keine so furchtbare Erfahrung, denn so gut ich es wußte, hatte er all seine Tage vorher in seinem zellenähnlichen Geldwechslerstübchen an der merceria hockend verbracht, was auch nicht wesentlich anders gewesen sein kann. Ich jedoch war frei und ungebunden gewesen und hatte viele Freunde gehabt; hier im vulcano eingesperrt zu sein, war gleichbedeutend mit Lebendigbegraben-Sein. Dabei dämmerte mir, dass ich noch dankbar sein mußte, wenigstens etwas Gesellschaft in meinem vorzeitigen Grab zu haben, selbst wenn es nur die eines Juden war, der sich nicht durch besondere Redseligkeit auszeichnete. Eines Tages erwähnte ich ihm gegenüber, ich hätte zwar schon mehrere Arten von Bestrafungen erlebt, die an den Säulen von Marco und Todaro verabreicht worden wären, jedoch noch nie eine Hinrichtung.
Er sagte; »Das liegt daran, dass diese meistens innerhalb dieser Mauern vorgenommen werden, so dass nicht einmal die Mitgefangenen etwas davon merken, bis sie vorüber sind. Der zum Tode Verurteilte wird in eine der sogenannten Zellen der Giardmi Foschi gesteckt, und diese Zellen haben vergitterte Fenster. Der Fleischmacher wartet geduldig draußen vor der Zelle ab, bis dieser einmal vor das Fenster hintritt und ihm den Rücken zuwendet. Diesen Augenblick benutzt er, dem Unglücklichen durch das Fenster die Garotte um den Hals zu werfen, so dass diesem entweder die Nackenwirbel brechen oder er erwürgt wird. Die Dunklen Gärten liegen auf der Kanalseite dieses Gebäudes; dort befindet sich im Korridor eine Steinplatte, die man herausnehmen kann. Nachts wird dann der Leichnam durch dieses geheime Loch in ein wartendes Boot hinuntergelassen und von diesem zur Sepoltüra Püblica geschafft. Erst wenn das geschehen ist, wird die Hinrichtung bekanntgegeben. Auf diese Weise wird alles ohne Aufheben erledigt. Venedig legt keinen Wert darauf, in aller Welt
hinauszuposaunen, dass die alte römische lege de tagion hier
noch so häufig Anwendung findet. Infolgedessen gibt es nur
wenige öffentliche Hinrichtungen. Diese Hinrichtung wird nur
bei wirklich ganz abscheulichen Verbrechen vorgenommen.«
»Verbrechen wie zum Beispiel?« fragte ich.
»Zu meiner Zeit wurde ein Mann öffentlich hingerichtet, weil er
einer Nonne Gewalt angetan hatte; ein anderer, weil er einem
Ausländer einige der Geheimnisse der Glasherstellung und bläserei von Murano verraten hatte. Die Ermordung eines
Mannes, der kurz davor stand, zum Dogen gewählt zu werden,
wird wohl ähnlich bewertet werden, nehme ich an, falls es das
ist, weshalb Ihr fragt.«
Ich schluckte. »Und... und wie wird öffentlich... hingerichtet?«
»Der Schuldige muß zwischen den beiden Säulen niederknien
und wird vom Fleischmacher enthauptet. Doch zuvor trennt der
Fleischmacher jenen Teil des Körpers ab, der das Verbrechen
begangen hat. Der Nonnenschänder wurde selbstverständlich
seines Glieds beraubt und dem Glasarbeiter die Zunge
herausgeschnitten. Dem Verurteilten wird auf dem Gang
zwischen den beiden Säulen das abgetrennte Körperteil an
einer Schnur um den Hals gehängt. In Eurem Fall, nehme ich
an, wird es wohl nur die rechte Hand sein.«
»Und nur mein Kopf«, sagte ich mit belegter Stimme.
»Versucht, nicht zu lachen«, sagte Mordecai.
»Lachen?« schrie ich entsetzt -um dann doch zu lachene, so
absurd waren seine Worte. »Ihr beliebt wieder zu scherzen,
alter Mann.«
Er zuckte mit den Achseln. »Man tut, was man kann.«
Eines Tages wurde das Einerlei meiner Gefangenschaft
unterbrochen. Die Tür wurde entriegelt, und ein Fremder trat
gebückt herein. Es handelte sich um einen ziemlich jungen
Mann, der nicht eine Uniform trug, sondern die Kutte der
Bruderschaft der Gerechtigkeit; er stellte sich mir als Fratello
Ugo vor.
»Schon jetzt«, sagte er flott, »schuldet Ihr für Logis und
Verpflegung in diesem Staatsgefängnis ein beträchtliches
casermagio. Seid Ihr arm, habt Ihr ein Anrecht auf Hilfe von der
Bruderschaft. Sie wird das casermagio für die gesamte Dauer
Eurer Einkerkerung zahlen. Ich bin lizenzierter Advokat und
werde Euch nach bestem Vermögen vertreten. Außerdem bin
ich bereit, Botschaften nach draußen zu tragen und solche zu
Euch hereinbringen. Und Euch manchen kleinen Trost
beschaffen - Salz für Euer Essen zum Beis piel, Öl für Eure
Lampe, derlei Dinge.« Und mit einem Blick auf den alten
Cartafilo setzte er noch hinzu: »Außerdem kann ich dafür
sorgen, dass Ihr
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