Marco Polo der Besessene 1
dabei, ein Bittgesuch an
die Quarantia zu stellen -sie wollen Euch besuchen, und das
wird für gewöhnlich nur dem Advokaten eines Gefangenen
erlaubt. Wer weiß, vielleicht gelingt es Eurem Vater und Onkel,
das Gericht milde zu stimmen. Und wenn sonst nichts, sollte
allein ihre Anwesenheit beim Verfahren Euch moralisch eine
Stütze sein. Und Euch etwas das Rückgrat stärken, wenn Ihr
den Gang zu den Säulen antreten müßt.« Nach dieser
fragwürdigen Ermunterung ließ er mich wieder allein. Mordecai
und ich saßen da und ergingen uns bis tief in die Nacht in den
phantastischsten Spekulationen. Wir waren immer noch dabei
zu reden, als das coprifuoco verklungen war und ein Wächter
uns durch das Loch in der Tür zugerufen hatte, wir sollten die
schwache Tranfunzel auf dem Boden löschen.
Weitere vier oder fünf Tage mußten vergehen, Tage voller
Unruhe für mich, doch dann ging die Tür wieder knarrend auf,
und ein Mann kroch herein, ein Mann, so beleibt, dass er Mühe
hatte, sich durch die Luke hindurchzuzwängen. Als er es
endlich geschafft hatte, richtete er sich auf und schien sich
immer weiter aufzurichten -so groß war er. Ich hatte nicht die
geringste Ahnung, mit jemand verwandt zu sein, der so groß
war wie er. Er war ebenso behaart wie beleibt, das Haupthaar
zerzaust, der bläulichschwarze Bart starr und kratzig. Aus
einschüchternder Höhe schaute er auf mich herab, und seine
Stimme klang geringschätzig, als er dröhnend zu mir sagte:
»Ja, wenn das nicht die größte merda mit Brotkruste drauf ist!«
Verschüchtert sagte ich: »Benvegnuo, caro pare.«
»Ich bin nicht dein Vater, du Unglücksrabe! Ich bin dein Onkel
Mafio.«
»Benvegnüo, caro zio. Kommt denn mein Vater nicht?«
»Nein. Es ist uns nur gelungen, die Besuchserlaubnis für einen
zu erlangen, und er sollte ja aus Trauer um deine Mutter in
Abgeschiedenheit verbleiben.«
»Oh, ja.«
»In Wahrheit ist es jedoch so, dass er vollauf damit beschäftigt
ist, seiner nächsten Frau den Hof zu machen.«
Das versetzte mir einen mächtigen Stoß. »Wie bitte? Wie kann
er nur?«
»Wer bist du, dass du es dir leis ten kannst, so mißbilligend zu
reden, du mißratener scagaron? Da kommt der arme Mann aus
der Fremde nach Hause, bloß um festzustellen, dass sein Weib
längst unter der Erde ist, ihre Zofe auf Nimmerwiedersehen
verschwunden, ein wertvoller Sklave verloren, sein Freund, der
Doge, ist tot -und sein Sohn, die Hoffnung der Familie, im
Kerker mit der Anklage des gemeinsten Meuchelmordes, den
es in der Geschichte Venedigs je gegeben!« Um auf diesen
Erguß noch so laut, dass jeder im vulcano es hören mußte,
hinzuzusetzen: »Sag mir die Wahrheit! Hast du es getan?«
»Nein, Herr Onkel«, sagte ich verzagt. »Doch was hat das alles
mit einer neuen Frau zu tun?«
Nicht mehr ganz so tönend, aber dafür in mißbilligendem Ton
sagte er: »Dein Vater ist Frauen blind ergeben. Aus
irgendeinem Grund liebt er es, verheiratet zu sein.«
»Dann hat er eine merkwürdige Art gewählt, meiner Mutter das
zu zeigen«, sagte ich. »Einfach fortzureisen und sich nicht
wieder blicken zu lassen.«
»Und er wird auch wieder fortreisen«, sagte Onkel Mafio. »Das
ist ja der Grund, warum er eine vernünftige Frau braucht, die
das Familienvermögen zusammenhält. Er hat nicht die Zeit, erst
auf noch einen Sohn zu warten. Da muß es eben eine andere
Frau sein.«
»Warum denn überhaupt etwas anderes?« fragte ich. »Er hat
schließlich einen Sohn.«
Mit Worten antwortete mein Onkel nicht auf diese Erklärung. Er
musterte mich nur kalt von Kopf bis Fuß und blickte sich dann
langsam in der kleinen, dämmrig erhellten und moderig
riechenden Zelle um.
Kleinlaut sagte ich: »Ich hatte gehofft, Ihr könntet mich hier
herausholen.«
»Nein, rauspauken mußt du dich selbst«, erklärte mein Onkel, und mir sank das Herz. Gleichwohl sah er sich weiter forschend im Raum um und sagte, gleichsam als denke er laut: »Von allen Schrecken, die eine Stadt befallen können, hat Venedig immer am meisten Angst vor einer Feuersbrunst gehabt. Ganz besonders bedrohlich wäre es, wenn eine solche auf den Dogenpalast und die darin enthaltenen stadteigenen Schätze übergriffe, oder auch auf die Basilika San Marco mit ihren womöglich noch unersetzlicheren Schätzen. Da aber der Palast neben diesem Kerker steht und die Kirche an die andere Seite angrenzt, haben die
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