Marco Polo der Besessene 2
der schäumenden kleinen Kaskade überspannte. Dieses Schauspiel bewunderte ich eine Zeitlang, dann wandte ich mich um und ließ den Blick über den See schweifen, während Kubilai vorm Dunkelwerden den Brief des Orlok Bayan durchlas, den ich ihm gegeben hatte. Es war ein bezaubernder und friedlicher Herbstabend. Hoch über dem Himmel gingen flammende Sonnenuntergangswolken, dann kam ein Stück der Fichtenwipfel am anderen Ende des Sees, die so ununterscheidbar schwarz aussahen, als wären sie aus schwarzem Papier ausgeschnitten und hingeklebt worden. Der spiegelglatte See spiegelte nur die schwarzen Bäume und das klare Blau des tieferen Himmels, bis auf die Stelle, wo eine Schar Enten gemächlich paddelnd darüberhinzog. Diese warfen flache Wellen, gerade genug, daß der Widerschein der hohen Sonnenuntergangswolken sich darin brechen konnte, und so zog jede Ente einen langen warmen Flammenkeil über die eisblaue Oberfläche.
»Ukuruji ist also tot«, seufzte Kubilai und faltete das Schreiben zusammen. »Aber ein großer Sieg ist errungen, und bald wird ganz Yun-nan die Waffen strecken.« (Weder der Khan noch ich konnten es in diesem Augenblick wissen, doch hatten die Yi bereits die Waffen niedergelegt, und ein weiterer Bote war von Yun-nan herauf unterwegs, um die Botschaft zu überbringen.) »Bayan schreibt, Ihr könnt mir im einzelnen berichten, was geschehen ist, Marco. Hat mein Sohn sich gut gehalten?«
Ich erstattete über das Wie und Wo und Wann Bericht darüber, wie wir die Bho als Pseudoheer, auf das man leicht verzichten konnte, eingesetzt hätten, wie lobenswert die Messingkugeln gewirkt hätten, wie die Schlacht schließlich in zwei kleinen Handgemengen geendet habe, wovon ich eines überlebt, Ukuruji jedoch nicht überlebt hatte, und schloß mit der Gefangennahme und Hinrichtung des verräterischen Pao Nei-ho. Ich hatte vorgehabt, Kubilai das yin-Siegel des Ministers Pao vorzuweisen, doch als ich davon sprechen wollte, ging mir auf, daß ich es in meinen Satteltaschen stecken hatte, die sich jetzt in meinen Räumen im Palast befanden, und so erwähnte ich es nicht. Und selbstverständlich verlangte der Khakhan derlei Beweise nicht.
Vielleicht ein wenig sehnsüchtig fügte ich noch hinzu: »Ich muß mich entschuldigen, Sire, daß ich mich nicht an das edle Vorbild Eures Großvaters Chinghiz gehalten habe.«
»Uu?«
»Ich habe Yun-nan augenblicklich verlassen, Sire, um Euch die frohe Kunde zu überbringen. Deshalb hatte ich keinerlei Gelegenheit, irgendwelche keusche Yi-Frauen oder jungfräuliche Yi-Töchter zu genießen.«
Glucksend sagte er: »Na ja. Zu schade, daß Ihr auf die hübschen Yi-Frauen habt verzichten müssen. Aber sobald wir das Sung-Reich genommen haben, ergibt sich für Euch vielleicht die Gelegenheit, in die dortige Provinz Fu-kien zu reisen. Die Frauen der Min, die dort in Fu-kien leben, sollen, wie es heißt, so wunderschön sein, daß die Eltern ihre Töchter aus Angst vor Sklavenjägern oder Konkubinenbeschaffern des Kaisers nicht einmal zum Wasser- oder Brennholzholen aus dem Haus lassen.«
»Dann freue ich mich schon jetzt auf meine erste Begegnung mit einem Min-Mädchen.«
»Indes würde, scheint's, Euer überragendes Können auf anderen Gebieten der Kriegführung den Krieger Khan Chinghiz doch mit Freude erfüllt haben.« Er zeigte auf den Brief. »Bayan erklärt, ein Großteil des Sieges über Yun-nan sei Euch zu verdanken. Ihr habt offenbar Eindruck auf ihn gemacht. Er macht sogar den unüberlegten Vorschlag, ich sollte mich dadurch über den Verlust von Ukuruji hinwegtrösten, daß ich Euch zu meinem Ehrensohn erklärte.«
»Ich fühlte mich geschmeichelt, Sire. Aber bedenkt, daß der Orlok dies im Siegestaumel geschrieben hat. Ich bin überzeugt, er wollte Euch nicht zu nahe treten.«
»Söhne genug habe ich ja noch«, sagte der Khan, als führe er dies sich selbst nachdrücklich vor Augen und nicht mir. »Meinem Sohn Chingkim habe ich selbstverständlich bereits vor langer Zeit den Mantel des Thronfolgers umgelegt. Außerdem hat - was Ihr noch nicht wissen könnt, Marco -Chingkims junge Frau Kukachin vor kurzem einen Sohn geboren, meinen ersten Enkel; folglich ist der Fortbestand unserer Linie gesichert. Sie haben ihm den Namen Temur gegeben.« Er fuhr fort, als hätte er ganz vergessen, daß ich da war. »Ukurujis größter Herzenswunsch war es gewesen, Wang von Yun-nan zu werden. Ein Jammer, daß er gefallen ist. Er hätte bestimmt einen fähigen Vizekönig für
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