Marco Polo der Besessene 2
ständiger Vorwurf.«
»Ich habe nur an Euch gedacht, undankbares Weib! Ich habe hier nichts weiter zu tun als darauf zu warten, bis sich der richtige Zahn Buddhas einfindet. Bis dahin brauche ich keinen Dolmetsch, denn sowohl der Raja als auch der Musikmeister sprechen beide Farsi.«
Laut schniefend wischte sie sich die Nase an ihrem nackten Arm ab. »Ich habe es keineswegs eilig, nach Bengalen zurückzukehren, Marco-wallah. Dort wäre ich auch nichts weiter als eine Witwe. Im übrigen haben der Raja und der Meister Khusru selbst genug zu tun. Sie werden sich nicht wie ich die Zeit nehmen, Euch herumzuführen und Euch zu zeigen, was es in Kumbakonam an Sehenswertem zu bewundern gibt. Ich habe mich bereits erkundigt und alles herausgesucht -um Euch eine Freude zu machen.« So zwang ich sie nicht, mich zu verlassen. Statt dessen ließ ich mich an jenem Tag und auch an den folgenden Tagen durch die Stadt führen und mir alles Sehenswerte zeigen.
»Dort drüben, Marco-wallah, seht Ihr den heiligen Mann Kyavana. Er ist der heiligste Bewohner von Kumbakonam. Es
sind jetzt viele Jahre her, daß er den Entschluß faßte, zur größeren Ehre Brahmas still zu stehen wie ein Baumstumpf, und das tut er heute noch. Das ist er.«
»Ich sehe drei alte Frauen, Tofaa, aber keinen Mann. Wo ist er?«
»Dort.«
»Dort? Das ist doch nur ein enormer Haufen von weißen Ameisen, an dem gerade ein Hund sein Wasser abschlägt.«
»Nein, das ist der heilige Mann Kyavana. Er stand so regungslos da, daß die weißen Ameisen ihn als Gerüst für ihren Lehmbau benutzten, der von Jahr zu Jahr größer wurde. Aber er ist es.«
»Nun… wenn er wirklich dort ist, dann ist er doch wohl tot, oder?«
»Wer weiß? Und was spielt es für eine Rolle? Als er noch am Leben war, stand er genauso regungslos da. Ein überaus heiliger Mann. Pilger kommen von überallher, um ihn zu bewundern, und Eltern zeigen ihn ihren Söhnen als Vorbild großer Frömmigkeit.«
»Dieser Mann hat nichts weiter getan als stillgestanden. So reglos still, daß kein Mensch sagen konnte, ob er noch lebt oder ob er inzwischen wohl gestorben ist. Und so was gilt als heilig? Als ein nacheifernswertes Vorbild?«
»Senkt Eure Stimme, Marco-wallah, sonst könnte Kyavana seine großen Kräfte als Heiliger an uns auslassen, wie er sie an den drei Mädchen ausgelassen hat.«
»Was für drei Mädchen? Was hat er mit ihnen gemacht?«
»Seht Ihr den Schrein ein Stück hinter dem Ameisenhaufen?«
»Ich sehe eine Lehmhütte mit den drei alten Weibern, die
vorm Tor hocken und sich kratzen.«
»Das ist der Schrein. Und das sind die Mädchen. Die eine ist sechzehn, die andere siebzehn und…«
»Tofaa, die Sonne brennt hernieder. Vielleicht sollten wir zurückkehren in den Palast, wo Ihr Euch niederlegen könnt.«
»Aber ich spiele den Fremdenführer für Euch, Marco-wallah. Als diese Mädchen im Alter von elf und zwölf Jahren standen, ließen sie es genauso sehr an Ehrfurcht mangeln wie Ihr. Sie beschlossen, einen Streich zu spielen und herzukommen, sich zu entblößen und dem heiligen Mann Kayavana ihre knospende Weiblichkeit vorzuführen, um ihn oder zumindest einen Teil von ihm aus seiner Unbeweglichkeit herauszulocken. Jetzt seht, was geschehen ist. Sie alterten auf der Stelle, ihre Haut bekam Runzeln, sie bekamen weiße Haare, wurden ausgemergelt, wie Ihr sie jetzt seht. Die Stadt hat den Schrein für sie errichtet, damit sie ihre paar Jahre, die ihnen noch bleiben, darin leben können. Das Wunder ist in ganz Indien berühmt geworden.«
Ich lachte. »Gibt es irgendwelche Beweise für diese absurde Geschichte?«
»Aber ja doch. Für einen Kupferling werden die Mädchen Euch jene kaksha-Teile zeigen, die -einst frisch und jung -so plötzlich uralt wurden und versauerten und stanken. Seht, sie breiten schon die Lumpen für Euch aus, damit Ihr…«
»Dio me varda!« ich hörte auf zu lachen. »Da, werft ihnen diese Münzen zu, und dann laßt uns machen, daß wir fortkommen. Ich bin bereit, das Wunder einfach zu glauben.«
»Das hier«, sagte Tofaa an einem anderen Tag, »ist ein Tempel besonderer Art. Ein Tempel, der Geschichten erzählt. Ihr seht die wunderbar ins einzelne gehenden Bildhauerarbeiten draußen, ja? Sie illustrieren die vielen Möglichkeiten, die Mann und Frau haben, um surata zu machen. Oder ein Mann und mehrere Frauen.«
»Ja«, sagte ich. »Wollt Ihr mir jetzt weismachen, dies hier sei heilig?«
»Überaus heilig sogar. Wenn ein Mädchen im Begriff steht
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