Marek-Miert 01 - Der dreizehnte Mann
Berufsastrologen.“
Carmen drängte ihren José auf das Sofa und ging sofort auf Tuchfühlung.
„Ich war ja gestern schon in dieser Gegend. Dieser schreckliche Unfall hier vor dem Haus ... Haben Sie ihn gesehen?“
„Welcher Unfall?“ Madame Helga hatte so schnell und spontan zurückgefragt, daß ich sie mir als Zeugin wohl abschminken konnte.
„Na, die totgefahrene Frau von gestern abend.“
„Also du warst gestern schon hier, Süßer. Wahrscheinlich bei den jungen Hühnern von unten. Aber die haben nichts drauf, sage ich dir. Willst du immer nur spannen? Bei mir bekommst du für vierhundert einen ordentlichen Instant-Fick, für sechshundert ...“
„Ich glaube nicht, daß ich dem Bundesverband Ihre Mitgliedschaft guten Gewissens empfehlen kann.“ Ich löste mich aus der professionellen Umklammerung und suchte den Flur, also das Weite zu gewinnen.
Madame Helga suchte nicht, mich aufzuhalten. Sie schleuderte mir nicht einmal eine Axt nach. Sie äußerte nur brüllend die Vermutung, daß ich schwul sei und daß mein Penis höchstwahrscheinlich - wenn man sich die Mühe machen würde, ihn aufzublasen - die Größe eines halben Streichholzes und die Konsistenz einer viel zu lange gekochten Spaghettinudel hätte.
Unten im Erdgeschoß wartete Wotan.
Durch Madame Helgas Geschrei aufmerksam geworden, stand er in all seiner Pracht am Gang, den er dadurch hermetisch versperrte. Er verließ sich ganz einfach auf sein Gewicht, seinen gut gepolsterten Bauch und sein kaltes Blut.
In der Polizeischule hatte ich drei Semester lang Judo und Kung Fu. Aber Judo ist nur etwas für Ästheten, und mit Kung Fu kann man sich selbst ernstlich verletzten, aber niemals einen anderen. Als Freifach hatte ich zusätzlich ein Semester lang Boxen belegt, aber gegen einen Mann in Wotans Gewichtsklasse konnte man nicht als fairer Sportsmann in den Ring steigen, ohne ihn nach zwei Minuten oder zwei Sekunden mausetot wieder zu verlassen. Außerdem hatte ich keine Lust, mir ein paar Finger und Handwurzelknochen zu brechen, was unvermeidlich ist, wenn man ohne Handschuhe in ein Gesicht boxt.
Viel erfolgversprechender schien mir die Methode zu sein, die Kindergartenkinder gerne anwenden: Sie nehmen einen Anlauf von drei oder vier Metern und rennen ihr Gegenüber einfach um.
Es war alles eine Frage des Gleichgewichtes, und Wotan fand seines nach dem Aufprall nicht wieder. Als er wie ein Babywal auf den Rücken klatschte, bückte ich mich und schlug mit dem Knauf der Pistole 08 dreimal konzentriert auf seinen Lockenkopf ein. Er blutete heftig und kam nicht mehr hoch.
Auf dem Weg zum Wagen wischte ich mit meinem Taschentuch das Blut des braven Soldaten von der Pistole.
X
Auf der Fahrt zu meinem Wohnbüro hatte ich die Stadt von Norden nach Süden zu durchqueren. Es gab keine Umfahrung: Wer wollte sich schon Harland entgehen lassen?
Von den salzigen Feldern im nördlichen Hinterland, schlecht genug für Kartoffelknollen, stieg weißlicher Dunst auf. Von den südlichen Vorbergen schlich Föhn in die Stadt. Zäh verwirbelte er Abgase, Rauch und die beißenden Dämpfe einer Chemiefabrik. Die Luft schmeckte nach Schwefel an diesem Abend, und das Licht war gelb und grün. Harland war meine Stadt.
Es ist eine alte Stadt, die niemals wirklich en vogue war. Von Zeit zu Zeit ist die Geschichte über sie hereingebrochen wie der Alb über den Schläfer. 1938 zersplitterten auch hier die Fenster der Synagoge und die Schädel der Betenden, und Goebbels schmutziger Euphemismus ‘Reichskristallnacht’ wurde von schmutzigen Journalisten auf schmutziges Zeitungspapier geschmiert. Hernach wurde fleißig gestorben, bis auch der böhmische Gefreite in das Reich der Toten hinabgestiegen war. Heute ist die Stadt aufgegangen wie ein Germteig. Beton wurde über die Narben geklatscht. Alle sind glücklich hier.
Auch ich war nicht unglücklich, obwohl es in der Birkengasse keine Birken gab. Aber es gab immerhin Parkplätze zuhauf und ein Bahnwärterhäuschen, dem man schon vor Jahrzehnten die Bahn eingestellt hatte, und darin war ich im ersten Stock in zwei Zimmer eingemietet. Außerdem gehörte mir ein Pseudomessingschild mit meinem Namen am Gartenzaun und ein Briefkasten im Flur des Erdgeschosses.
Den Rest des Gebäudes hatte eine Telefonmarketingfirma belegt, in ihren Räumlichkeiten saßen ältere Hausfrauen an einer Unmasse von Telefonen und versuchten auf Provisionsbasis älteren Hausfrauen Zeitschriftenabonnements und Paarungskissen aufzuschwatzen.
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