Marek-Miert 01 - Der dreizehnte Mann
eigentlich keine Fahrzeuge hinter mir, und niemand wollte mir die Nase abschneiden. Harland hatte sich verkrochen. Außer zwei Giftlern, die eben einen Zigarettenautomaten aufbrachen, sah ich niemanden im ganzen Südbezirk.
Im Norden hielt ich mich an den Fluß, einen toten Kanal für Industrieabwässer. Gelbbrauner, verfilzter Auwald bedeckte seine Ufer. Die Kröte wurde noch breitbauchiger. Kontraste rannen ineinander. Die Farben wurden zuerst wie vom Alter schattiert, dann verschmolzen sie ins Nichts. Mit unbewaffnetem Auge nahm ich als letztes, bevor ich die Scheinwerfer einschaltete, das Tragwerk der Nordbrücke wahr.
Eine ängstliche Brücke - mit zwei massiven Pfeilern und mannsdicken Streben schob sie sich über den Kanal, der in den Karten noch als blauer Fluß eingezeichnet war. Rings um das Tragwerk nur Auwald, Fußwege durch das Gebüsch und die Bundesstraße 101, für die die Brücke weiland unter Adolf dem Schrecklichen von verschleppten Polen gebaut worden war. Am westlichen Ufer, an dem ich herangefahren war, hatte das Betonband der 101er einen Knick, bevor es kerzengerade auf die Brücke zulief. Meine Scheinwerfer erfaßten zwei Bagger, die dort standen, einen Sandhaufen, einen Toilettenwagen für die Arbeiter - man hatte begonnen, die unmotivierte Kurve zu begradigen, und war dabei auf die Knochen gestoßen, die Saleks Habilitationsthema abgeben sollten.
Von der in Nord-Süd-Richtung führenden Uferpromenade konnte man unmöglich auf die westöstliche Bundesstraße auffahren, ein schmaler Streifen abgestorbener Disteln lag dazwischen. Ich fluchte halbherzig, packte meine Kindertaschenlampe - neben Mozartkugeln und einer Handgranate aus Opa Mierts Beständen zur Standardausrüstung meines privaten Einsatzfahrzeuges zählend - und schickte mich an, das Distelfeld zu queren.
Die Stille war laut wie Weihnachten, als ich ausstieg. Der Auwald atmete wie ein großes, behaartes Tier. Zwischen den Disteln stand fingerbreit zähes Wasser. Ich knatschte durch die Nacht und ruinierte ein sensationelles Sonderangebot, meine italienischen Importschuhe, handgefertigt aus Plastik und ein bißchen Spucke.
Der Strahl der Kindertaschenlampe reichte gerade zwei, drei Armlängen weit - ich konnte die Bagger nicht mehr sehen, nur tote Pflanzenleiber ringsum.
Zuerst sah ich den Fuchs - ein dünngelber Schatten -, dann erst den Fuß, den er benagte. Er ignorierte mich und mein schwächliches Licht nicht einmal, sondern war begierig darum bemüht, den Knöchel oberhalb des Schuhrandes vollständig durchzubeißen - Wildtiere haben eben nun mal weit bessere Nerven als wir.
Zuerst wollte ich die Taschenlampe nach ihm werfen, dann die wahrscheinlich schon seit Jahrzehnten funktionsuntüchtige Granate aus dem Handschuhfach holen, aber plötzlich glaubte ich ein Zucken des malträtierten Fußes zu bemerken, minimal und schreckerregend, und ich schrie, schrie ...
Wer schreit, ist in einer anderen Welt. Wer schreit, ist für einen Moment zu allem fähig. Das dürfte auch der Fuchs geahnt haben. Im Nu war er aus dem Lichtkegel meiner Taschenlampe verschwunden. Der Fuß zuckte nicht mehr. Ich kam aus der anderen Welt wieder zurück und wußte nicht mehr, was ich gebrüllt hatte.
Das Licht in meiner Hand erfaßte den zerfleischten Fuß, ein Bein, ein zweites, den Rumpf, eine überlange Gestalt mit verkrampften Händen - Longinus. Es war Salek, der da im kalten Wasser zwischen den Disteln lag, mit schmutzigem Gewand, verfilzten Haaren, die Haut sehr weiß, sehr tot. Aber hatte nicht sein Fuß gezuckt? Ich war mir nicht mehr so sicher, als ich ihn so liegen sah in seinem Distelgrab.
Es ist völlig unmöglich für eine einzelne Person, einen ausgewachsenen Mann - noch dazu einen von Longinus’ Ausmaßen - zu tragen. Nur Hollywood macht das in jedem zweiten Film möglich, aber die Realität ist widerborstig, die Realität sperrt sich gegen diese Bilder, ein ausgewachsener Mann, der sich nicht bewegen kann, ist schwerer als zwei Zementsäcke und damit nicht auf die eigene Schulter zu bringen.
Ich packte ihn an den Händen und begann, ihn in Richtung Wagen zu schleifen. Vielleicht würde ich ihm dabei eine Schulter auskegeln, aber gegen das, was ihm die Kälte und der Fuchs angetan hatten, war das so gut wie nichts.
XX
Der Kaffee aus dem Krankenhausautomaten war doppelt so teuer wie in einem Bahnhofsrestaurant und dreimal so scheußlich.
Longinus’ Leiche war schwieriger als eine achtköpfige Familie im Ford Granada
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