Margaret Mitchell
Schuld sich vom Herzen zu reden!
Das stille
Haus, durch das der Tod geisterte, bedrückte sie so schwer, daß sie es nicht
mehr aushielt. Vorsichtig stand sie auf, zog die Tür halb zu und wühlte in der
unteren Kommodenschublade zwischen ihrer Wäsche. Sie holte Tante Pittys
>Ohnmachtsflasche< hervor, die sie dort versteckt hatte, und hielt sie
gegen die Lampe. Sie war fast zur Hälfte geleert. So viel konnte sie doch seit
gestern abend unmöglich getrunken haben! Sie goß sich einen großen Schluck
Branntwein ins Wasserglas und trank ihn mit einem Zug aus. Ehe es Morgen wurde,
mußte sie die Flasche mit Wasser auffüllen und in Pittys Schrank zurückstellen.
Kurz vor der Beerdigung, als die Sargträger etwas zu trinken verlangten, hatte
Mammy danach gesucht, und schon herrschte Gewitterschwüle in der Küche, weil
Mammy, Cookie und Peter sich gegenseitig in Verdacht hatten.
Der
Branntwein wärmte sie mit wohligem Feuer. Dem kam nichts gleich, wenn man ein
Bedürfnis danach hatte. Ja, eigentlich tat er immer gut, viel wohler als der
fade Wein. Warum in aller Welt eine Frau wohl Wein, aber keinen Schnaps trinken
durfte? Mrs. Merriwether und Mrs. Meade hatten beim Begräbnis höchst
augenfällig geschnüffelt und vielsagende Blicke ausgetauscht. Die falschen
Katzen!
Sie goß
sich noch einen Schluck ein. Wenn sie heute abend einen kleinen Schwips bekam,
so schadete es nichts. Sie ging ja doch bald zu Bett und konnte mit Kölnisch
Wasser gurgeln, ehe Mammy heraufkam. Hätte sie sich doch so vollständig und
sinnlos betrinken können wie Gerald früher an den Gerichtstagen! Dann könnte
sie vielleicht Franks eingefallene Züge vergessen, die sie anklagten, erst sein
Leben zerstört und dann ihn getötet zu haben.
Ob wohl
jeder in der Stadt meinte, sie habe ihn umgebracht? Bei der Beerdigung war man
kühl gegen sie gewesen, und nur die anwesenden Frauen der Yankeeoffiziere
hatten ihre Teilnahme bezeugt. Aber was scherte es sie! Wie unwichtig war es
neben dem, was sie vor Gott zu verantworten hatte!
Sie trank
noch einmal und schauderte, als das scharfe Getränk ihr den Hals hinabrann. Immer
noch wurde sie den Gedanken an Frank nicht los. Wie dumm von den Männern, zu
behaupten, Branntwein brächte Vergessen! Ehe sie sich nicht völlige
Bewußtlosigkeit antrank, sah sie doch unausgesetzt Franks Gesicht vor sich, wie
er sie das letztemal angesehen hatte, als er sie bat, nicht allein auszufahren,
schüchtern, als wolle er ihr seine stummen Vorwürfe gleichsam abbitten.
Da schlug
drunten dumpf der Klopfer an die Haustür, daß das ganze Haus widerhallte. Sie
hörte Pittys watschelnden Schritt in der Halle, und es wurde geöffnet. Dann
folgte eine Begrüßung, das Weitere war nicht zu unterscheiden. Wohl ein
Nachbar, der sein Beileid ausdrücken oder einen Kuchen bringen wollte. Pitty
hatte so etwas gern. Sie empfand einen feierlich schwermütigen Genuß daran,
Kondolenzbesuche zu empfangen.
Als eine
klangvolle, weiche Männerstimme Pittys Trauergeflüster übertönte, wußte
Scarlett, wer es war, und fühlte sich auf einmal froh und leicht. Es war Rhett.
Sie hatte ihn nicht gesehen, seitdem er ihr Franks Tod mitgeteilt hatte, und
nun war sie im tiefsten Herzen überzeugt, er sei der einzige Mensch, der ihr
heute zu helfen vermöchte.
»Ich
glaube, sie empfängt mich«, drang Rhetts Stimme zu ihr herauf.
»Aber sie
hat sich doch hingelegt, Kapitän Butler, und will niemanden sehen. Sie ist
vollkommen gebrochen, das arme Kind. Sie ...«
»Ich
glaube, für mich ist sie zu sprechen. Bitte sagen Sie ihr, daß ich morgen fahre
und wohl eine Zeitlang fortbleibe. Es handelt sich um etwas Wichtiges.«
»Aber
...«, hauchte Tante Pitty.
Scarlett
lief auf den Flur hinaus, wobei sie verwundert bemerkte, daß ihre Knie ein
wenig schwankten, und lehnte sich über das Geländer.
»Ich komme
sofort, Rhett«, rief sie hinunter.
Flüchtig
sah sie in Pittypats rundliches Gesicht, das sich nach oben wandte und sie
voller Staunen und Mißbilligung wie mit Eulenaugen anblickte. »Nun weiß es die
ganze Stadt, daß ich mich am Begräbnistage meines Mannes wieder unschicklich
benehme«, dachte Scarlett, als sie in ihr Zimmer zurücklief und sich die Haare
glättete. Sie knöpfte sich die schwarze Taille bis zum Kinn zu und steckte den
Kragen mit Pittypats Trauerbrosche fest. »Besonders hübsch sehe ich nicht aus«,
dachte sie, als sie sich in dem Spiegel sah, »zu blaß und aufgeregt.« Schon
streckte sie die Hand nach der Schatulle
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