Margaret Mitchell
es nicht. Ich gehe nach Hause.«
Es waren
nur fünf Häuserblocks bis nach Hause. Sie wollte nicht darauf warten, daß der
schluchzende Peter den Einspänner anspannte oder Dr. Meade sie nach Hause fuhr.
Weder den Tränen des einen noch den schweigenden Vorwürfen des andern fühlte
sie sich gewachsen. Rasch lief sie ohne Hut und Mantel die dunklen
Verandastufen hinunter in die nebelige Nacht hinein. Sie ging um die Ecke und
dann weiter langsam zur Pfirsichstraße hinauf. Sie schritt durch die nasse
schweigende Welt, sogar ihre Schritte waren lautlos wie im Traum.
Während
sie so hinaufstieg, die Brust beklommen von ungeweinten Tränen, überkam sie ein
träumerisches Gefühl, als hätte sie an diesem trüben frostigen Ort unter
ähnlichen Umständen schon einmal geweilt, nicht nur einmal, sondern oft.
»Zu albern«, dachte sie furchtsam und beschleunigte ihren Schritt. Es
waren ihre Nerven, die ihr diesen Streich spielten. Aber das Gefühl wollte nicht
weichen und erfüllte unmerklich ihre ganze Seele.
Unsicher
spähte sie um sich. Das Gefühl nahm zu, unheimlich und doch vertraut. Witternd
hob sie den Kopf wie ein Tier, wenn Gefahr im Anzüge ist. »Es ist nur die
Abspannung«, suchte sie sich zu beruhigen, »und die Nacht ist so seltsam. Einen
so dichten Nebel habe ich noch nie gesehen ... außer ... außer ...«
Da wußte
sie es, und die Angst preßte ihr das Herz zusammen. Ja, jetzt wußte sie es.
Hundert Male war sie im Traum durch solchen Nebel geflohen, durch ein
gespenstisches Land ohne vertraute Merkzeichen, dicht in kalten Nebel
eingehüllt, der von drohenden Geistern und Schatten wimmelte. Träumte sie
wieder, war ihr Traum nun Wirklichkeit geworden?
Einen
Augenblick entglitt ihr die Wirklichkeit, sie wußte nicht, wo sie war. Das alte
Traumgefühl durchwogte sie stärker als je, ihr Herz hämmerte rasend. Wieder
stand sie mitten in der Stille des Todes wie damals auf Tara. Alles, worauf es
in der Welt ankam, war verschwunden, das Leben lag in Trümmern, das Grauen
heulte wie ein Sturmwind in ihrem Herzen. Das Entsetzen legte Hand an sie, und
sie fing an zu laufen. Wie sie hundertmal im Traum gelaufen war, so lief sie
auch jetzt und floh blindlings dahin, von sinnloser Angst getrieben, in dem
grauen Nebel nach dem sicheren Hafen suchend, der irgendwo lag.
So ging
sie die dämmerige Straße hinauf, vorgestreckten Kopfes und pochenden Herzens.
Die kalte Nachtluft benetzte ihr Antlitz, die Bäume drohten zu ihr herab.
Irgendwo in dieser feuchten, stillen Wüste lag der Zufluchtsort! Keuchend
stürzte sie weiter hinauf, die nassen Röcke schlugen ihr kalt um die Enkel, die
Lunge wollte ihr bersten, das festgeschnürte Korsett preßte ihr die Rippen ins
Herz.
Dann
tauchte vor ihren Augen ein Licht auf, eine ganze Reihe von trüben, aber
wirklichen Lichtern. In ihrem Alpdruck hatte sie sonst nie ein Licht gesehen,
nur immer grauen Nebel. Ihr Denken klammerte sich an dieses Licht. Es bedeutete
Geborgenheit, Wirklichkeit, Menschen. Sie blieb stehen, krampfte die Hände
zusammen und riß sich mit Gewalt aus ihrer Betäubung. Unverwandt starrte sie
auf die Reihe von Gaslampen, die ihrem Hirn das Zeichen gegeben hatten. Hier
war die Pfirsichstraße, hier war Atlanta und nicht die graue Welt der Geister
und des Schlafes. Ganz außer Atem sank sie auf einen Prellstein nieder und
suchte ihre Nerven in die Gewalt zu bekommen.
»Ich bin
ja wie eine Irre gelaufen«, dachte sie. »Wo wollte ich denn hin?« Da saß sie,
die Hand auf dem Herzen, schaute die Pfirsichstraße hinauf und atmete ruhiger.
Dort oben lag ihr Haus, hell, als sei in jedem Fenster Licht, über das der
Nebel keine Macht hatte. Daheim! Etwas wie Ruhe kam über sie. Nach Hause. Das
war also, wohin sie gewollt hatte. Nach Hause zu Rhett.
Bei dieser
Erkenntnis schienen Ketten von ihr abzufallen und mit ihnen die Angst, die sie
verfolgt hatte seit jener Nacht, da sie tödlich erschöpft nach Tara gekommen
und die Welt zu Ende gewesen war. Damals war alles dahin gewesen, alle
Sicherheit, Kraft und Weisheit, alle Zärtlichkeit und alles Verständnis, was in
Ellen den Segen ihrer Mädchenzeit verkörpert hatte. Wohl hatte sie inzwischen
die äußere Sicherheit erlangt, aber in ihren Träumen war sie immer noch das
geängstigte Kind, das nach der verlorenen Geborgenheit jener entschwundenen
Welt auf der Suche war.
Nun
erkannte sie den Hafen, den sie in ihren Träumen gesucht, die Stätte des
Schutzes, die der Nebel ihr stets
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