Margaret Mitchell
heiraten will. Heiraten? Nicht geschenkt nähme
ich ihn. Und doch habe ich ihn nun mein Leben lang auf dem Halse. Solange ich
lebe, muß ich darauf achthaben, daß er nicht verhungert und daß man ihm nicht
zu nahetritt. Er ist noch ein Kind mehr, das mir am Rock hängt. Meinen Liebsten
habe ich verloren und dafür ein Kind mehr. Hätte ich es nicht Melanie
versprochen ... es machte mir nichts, ihn nie wiederzusehen.«
62
Sie hörte
draußen leise Stimmen, ging an die Tür und sah unten im Flur die verängstigten
Schwarzen stehen, Dilcey mit dem schlafenden Beau auf dem Arm, an dem sie
sichtlich schwer trug, Onkel Peter in Tränen, Cookie, die sich das breite,
nasse Gesicht mit der Schürze trocknete. Alle drei sahen sie Scarlett an und
fragten sie stumm, was sie nun tun sollten.
Im
Wohnzimmer standen India und Tante Pitty und hielten einander wortlos bei der
Hand, und dieses eine Mal war von India alle Steifheit gewichen. Gleich den
Negern blickten auch sie flehend zu Scarlett auf, daß sie ihnen eine Weisung
gebe. Sie ging ins Wohnzimmer, die beiden kamen hinter ihr her.
»Ach,
Scarlett«, begann Tante Pitty mit bebender Kinderstimme.
»Sprich
kein Wort, oder ich fange an zu schreien«, sagte Scarlett. Sie hatte die Hände
in die Seite gestemmt, die überreizten Nerven schärften ihren Ton, der Gedanke,
sie solle jetzt von Melanie sprechen und die unvermeidlichen Anordnungen
treffen, die ein Todesfall nach sich zieht, preßte ihr von neuem die Kehle
zusammen. »Kein Wort, hört ihr?«
Vor ihrem
herrischen Ton wichen sie mit hilflos verletztem Ausdruck zurück. »Ich darf vor
ihnen nicht weinen«, dachte sie. »Ich darf mich nicht gehenlassen, dann weinen
sie auch, und dann fangen die Schwarzen an zu heulen, und wir werden alle
verrückt. Ich muß mich zusammennehmen. Es gibt soviel zu tun. Den
Bestattungsunternehmer muß ich bestellen und die Beerdigung festsetzen, ich muß
dafür sorgen, daß das Haus saubergemacht wird, ich muß zur Stelle sein und für
alle Leute freundliche Worte finden, die an meinem Halse weinen wollen. Ashley
kann es nicht, Pitty und India können es auch nicht. Ich muß es tun. Ach, immer
wieder schwere Lasten, immer die Lasten der andern!«
Sie
schaute India und Pitty in die verstörten Gesichter und war zerknirscht.
Melanie hätte es nicht gefallen, daß sie so scharf mit den Menschen umging, die
sie so liebhatten.
»Seid
nicht böse«, brachte sie mühsam hervor. »Es kommt nur daher, daß ich ...
verzeih, Tantchen, daß ich unfreundlich war. Ich gehe einen Augenblick auf die
Veranda. Ich muß jetzt allein sein. Dann komme ich wieder und wir ... «
Sie
streichelte Tante Pitty und lief an ihr vorüber zur Haustür. Wäre sie eine
Sekunde länger dageblieben, mit ihrer Selbstbeherrschung wäre es vorbei
gewesen. Sie mußte allein sein. Weinen mußte sie, sonst brach ihr das Herz.
Sie trat
auf die dunkle Veranda und zog die Tür hinter sich zu. Die feuchte Nachtluft
kühlte ihr das Gesicht. Der Regen hatte aufgehört, sie hörte nur ab und zu das
Wasser aus der Dachrinne tropfen, sonst keinen Laut. Die Welt war in dichten,
eisigen Nebel gehüllt, der den Hauch des sterbenden Jahres in sich trug. Auf
der Straße waren alle Häuser dunkel bis auf eins, das Licht der Lampe kämpfte
vergeblich gegen den Nebel an. Goldene Tröpfchen glitzerten im Schein. Ihr war,
als läge die ganze Welt in einer regungslosen Hülle von grauem Dunst. Die ganze
Welt schwieg.
Sie lehnte
den Kopf an einen Pfosten der Veranda und wollte weinen, aber es kamen keine
Tränen. Dieses Unglück war für Tränen zu groß. Ihr Körper bebte. Ihr Herz
hallte noch wider von dem Krachen, mit dem die beiden unbezwinglichen Burgen
ihres Lebens donnernd eingestürzt waren. Eine Weile stand sie da und versuchte
die Kraft ihres alten Zauberspruchs: »Morgen denke ich über all das nach,
morgen, wenn ich es besser ertrage«, aber der Zauber hatte seine Kraft
verloren. An zwei Dinge mußte sie jetzt denken - an Melanie, wie innig sie sie
brauchte und liebte, an Ashley und ihren Eigensinn, der sie blind gegen das
gemacht hatte, was er in Wirklichkeit war. Daran zu denken aber tat morgen und
an jedem kommenden Tag ihres Lebens genauso weh wie jetzt. »Ich kann nicht
wieder hinein und mit ihnen sprechen«, dachte sie. »Jetzt kann ich Ashley nicht
trösten, heute abend nicht mehr! Morgen früh komme ich zeitig und tue alles,
was getan werden muß, und sage die Trostworte, die sie von mir erwarten. Heute
abend kann ich
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