Margos Spuren
doch ich unterbrach ihn.
»Ich weiß nicht, wo sie ist«, sagte ich. »Das schwöre ich.«
»Ich wollte nur sichergehen, Junge. Aber irgendwas weißt du, oder? Fangen wir damit an.« Und dann erzählte ich ihm alles. Ich vertraute ihm. Während ich redete, machte er sich ein paar Notizen, ohne ins Detail zu gehen. Und etwas daran, wie ich ihm alles erzählte und wie er sich Notizen machte und wie gemein ihre Eltern waren, machte mir zum ersten Mal die Möglichkeit bewusst, dass sie tatsächlich länger verschwunden bleiben könnte. Als ich fertig war, spürte ich, wie es mir kalt den Rücken herunterlief. Der Detective schwieg. Er lehnte sich in seinem Sessel vor und starrte in die Luft, als wartete er auf irgendwas, und dann, als er es gesehen hatte, fing er an zu reden.
»Hör zu, Junge. Meistens läuft es so : Ein Teenager – oft ein Mädchen – hat ein zügelloses Temperament und versteht sich nicht gut mit seinen Eltern. Solche Leute sind wie festgebundene Heliumballons. Sie zerren an ihrer Schnur und zerren und zerren, und dann passiert irgendwas, und die Schnur reißt, und sie schweben davon. Meistens sieht man den Ballon nie wieder. Das Mädchen landet vielleicht in Kanada, arbeitet als Kellnerin, und bevor sie es merkt, hat sie dreißig Jahre lang im selben Restaurant denselben traurigen Mistkerlen Kaffee ausgeschenkt. Oder der Wind steht so, dass der Ballon nach drei, vier Jahren, oder drei, vier Tagen, zurück nach Haus fliegt, weil er Geld braucht oder wieder nüchtern ist oder das kleine Geschwisterchen vermisst. Aber merk dir eins, Junge, dass diese Schnüre reißen, das passiert jeden Tag.«
»Ja, aber …«
»Ich bin noch nicht fertig. Das Problem mit diesen Ballons ist, dass es so verdammt viele davon gibt. Der Himmel ist voll von Ballons, die aneinanderreiben, während sie von hier nach da getrieben werden, und jeder einzelne dieser verdammten Ballons landet irgendwie auf meinem Tisch, und irgendwann verzweifelt man daran. Überall Luftballons, und jeder davon hat eine Mutter oder einen Vater oder, Gott behüte, alle beide, und irgendwann kann man sie nicht mehr einzeln betrachten. Du siehst hoch zu all den Ballons am Himmel, und du siehst nicht mehr die einzelnen Ballons, sondern nur noch eine wabernde Masse.« An dieser Stelle hielt er inne und seufzte, als wäre ihm gerade etwas eingefallen. »Aber dann, hin und wieder, steht ein Junge vor dir, mit großen Augen und viel zu viel Haaren auf dem Kopf, und du würdest ihn lieber anlügen, weil er dir wie ein guter Junge vorkommt. Und du hast Mitleid mit ihm, denn das Einzige, was schlimmer ist, als in einen Himmel voller Ballons zu sehen, ist das, was er sieht : ein strahlender klarer blauer Tag, der nur von einem einzigen Ballon gestört wird. Aber wenn die Schnur mal gerissen ist, Junge, kannst du sie nie wieder zusammenknoten. Verstehst du, was ich meine?«
Ich nickte, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich ihn wirklich verstand. Er stand auf. »Ich glaube, sie ist bald zurück, Junge. Wenn dir das hilft.«
Mir gefiel das Bild, dass Margo wie ein Luftballon dahinschwebte, aber ich hatte auch das Gefühl, mit seiner poetischen Anwandlung hatte der Detective mehr Sorge bei mir wahrgenommen als das leichte Frösteln, das ich tatsächlich spürte. Ich wusste, dass sie zurückkam. Sie würde Dampf ablassen, und dann kam der Ballon wieder nach Jefferson Park geschwebt. So war es bis jetzt immer gewesen.
Ich folgte dem Detective ins Esszimmer zurück. Er sagte, er wollte noch mal zu den Spiegelmans rüber und sich ein bisschen in Margos Zimmer umsehen. Mrs. Spiegelman umarmte mich kurz und sagte : »Du bist so ein gescheiter Junge. Es tut mir leid, wenn sie dich in ihre Albernheiten reingezogen hat.« Mr. Spiegelman schüttelte mir die Hand, und dann gingen sie. Kaum war die Tür zu, sagte mein Vater : »Puh.«
»Puh«, stimmte meine Mutter zu.
Mein Vater legte den Arm um mich. »Da sind ziemlich beunruhigende Kräfte im Spiel, was, Kumpel?«
»Was für Arschlöcher«, sagte ich. Meine Eltern mochten es, wenn ich Kraftausdrücke vor ihnen benutzte. Ich sah es ihrer Zufriedenheit an. Es bedeutete für sie, dass ich ihnen vertraute, weil ich vor ihnen ich selbst sein konnte. Trotzdem wirkten sie traurig.
»Für Margos Eltern ist es jedes Mal, wenn sie was anstellt, eine narzisstische Kränkung«, sagte mein Vater.
»Was sie daran hindert, gute Eltern zu sein«, erklärte meine Mutter.
»Sie sind Arschlöcher«, wiederholte
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