Margos Spuren
Situation auch für mich tun sollte. Wir waren zwar nicht eng befreundet oder so, aber sie hat es verdient, dass wir sie finden, oder?«
»Es sei denn, sie will nicht gefunden werden«, sagte ich.
»Ja. Schätze, das ist auch eine Möglichkeit. Alles ist möglich.« Ich nickte. »Also schön«, sagte er. »Können wir weitere Überlegungen beim Videospielen anstellen?«
»Ehrlich gesagt, habe ich keine große Lust.«
»Können wir Ben anrufen?«
»Nein. Ben ist ein Arschloch.«
Radar sah mich von der Seite an. »Klar ist er das. Aber weißt du, was dein Problem ist, Quentin? Du erwartest von den Leuten, dass sie besser sind, als sie sind. Ich meine, ich könnte dich dafür hassen, dass du immer zu spät bist und dass du dich nie für irgendwas anderes interessierst als Margo Roth Spiegelman und nie nachfragst, wie es mit meiner Freundin so läuft – aber ich seh’s nicht so eng, Mann, weil, so bist du eben. Meine Eltern haben einen Fimmel für schwarze Weihnachtsmänner, aber das ist okay. So sind sie eben. Wie oft bin ich mit meiner Streberwebsite beschäftigt. Zu beschäftigt, um ans Telefon zu gehen, wenn meine Freunde anrufen oder meine Freundin. Das ist auch okay. So bin ich eben. Du hast mich trotzdem gerne. Und ich habe dich gerne. Du bist lustig, und du hast was in der Birne, und auch wenn du zu spät kommst, kommst du immer irgendwann.«
»Danke.«
»Bitte. Na ja, das sollte jetzt kein Kompliment sein. Ich meine nur : Hör auf zu denken, dass Ben so wie du sein soll, und Ben muss aufhören zu denken, dass du mehr wie er sein sollst, und dann können wir alle ein bisschen chillen, Mann.«
»Na gut«, sagte ich irgendwann und rief Ben an. Die Information, dass Radar bei mir war und Videospiele spielen wollte, beschleunigte seine Genesung auf wundersame Weise.
»Okay«, sagte ich, als ich aufgelegt hatte. »Wie läuft es mit Angela?«
Radar lachte. »Gut, Mann. Sie ist echt toll. Danke der Nachfrage.«
»Bist du noch Jungfrau?«, fragte ich.
»Ein Gentleman genießt und schweigt. Aber ehrlich gesagt, ja. Ach, und heute Morgen hatten wir unseren ersten Streit. Wir haben bei McDonald’s gefrühstückt, und sie hörte nicht auf damit, wie abgefahren schwarze Weihnachtsmänner sind und wie toll meine Eltern sind, weil sie sie sammeln, und dass es so wichtig ist, nicht so zu tun, als wären alle großen Typen in unserer Kultur weiß – Gott und Jesus und der Weihnachtsmann –, und wie bedeutend der schwarze Weihnachtsmann für die afroamerikanische Gemeinde ist.«
»Eigentlich finde ich, sie hat recht«, sagte ich.
»Ja, vielleicht, nette Idee, aber zufälligerweise vollkommener Schwachsinn. Meine Eltern versuchen eben nicht, das Wort vom schwarzen Weihnachtsmann in der Welt zu verbreiten. Wenn es so wäre, würden sie schwarze Weihnachtsmänner produzieren . Stattdessen wollen sie die weltweiten Bestände aufkaufen. In Pittsburgh wohnt so ein alter Knacker mit der zweitgrößten Sammlung der Welt, und die wollen sie ihm die ganze Zeit abjagen.«
Ben meldete sich von der Tür. Anscheinend stand er schon eine Weile da. »Radar, deine Unfähigkeit, es deiner zauberhaften Zuckerschnecke zu besorgen, ist die größte humanitäre Katastrophe unserer Zeit.«
»Wie geht’s, Ben«, sagte ich.
»Danke fürs Heimfahren gestern, Alter.«
15
Obwohl wir nur noch eine Woche bis zu den Prüfungen hatten, versenkte ich mich den ganzen Montagnachmittag in »Lied auf mich selbst«. Eigentlich wollte ich die letzten beiden Geistersiedlungen noch abklappern, aber Ben brauchte sein Auto. Ich las das Gedicht nicht mehr, um Hinweise darin zu finden, sondern um Margo selbst zu begreifen. Ich kam ungefähr bis zur Hälfte, dann stieß ich auf einen Abschnitt, den ich mehrmals lesen musste.
»Nun will ich nichts tun als lauschen«, schreibt Walt Whitman. Und dann lauscht er zwei Seiten lang : einer Dampfpfeife, den Stimmen der Leute, einer Oper. Er sitzt im Gras und lässt sich vom Klang der Welt durchspülen. Und genau das versuchte ich auch : Ich versuchte all ihre Töne zu hören, denn bevor ich irgendwas verstehen konnte, musste ich zuhören. Viel zu lange hatte ich Margo nicht richtig zugehört – hatte sie schreien sehen und gedacht, sie lachte. Jetzt war das Zuhören meine Aufgabe. Selbst aus der Ferne musste ich versuchen ihr zu lauschen – ihre Oper zu hören.
Da ich Margo selbst nicht hören konnte, beschloss ich, das zu hören, was sie gehört hatte. Ich lud mir das Billy-Braggs-Album mit den
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