Margos Spuren
Cover-Versionen von Woody Guthrie herunter. Mit geschlossenen Augen saß ich vor dem Computer, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, und lauschte einem Song in Moll. Ich versuchte, in dieser Musik, die ich noch nie gehört hatte, die Stimme zu hören, an die ich mich schon nach zwölf Tagen kaum noch erinnerte.
Ich lauschte immer noch, als meine Mutter nach Hause kam. »Dein Vater kommt später«, sagte sie durch die geschlossene Tür. »Ich dachte mir, ich mache ein paar Putenburger?«
»Klingt toll«, rief ich, und dann schloss ich die Augen wieder und hörte weiter, Bob Dylan und andere. Ich tat nichts anderes, bis mein Vater eineinhalb Alben später zum Essen rief.
Beim Essen sprachen meine Eltern über Nahostpolitik. Obwohl sie völlig einer Meinung waren, schafften sie es, sich in Rage zu reden. Sie sagten, Soundso wäre ein Lügner, und Soundso wäre ein Lügner und ein Dieb, und dass der ganze Haufen am besten das Amt niederlegte. Ich konzentrierte mich auf den Putenburger, der ausgezeichnet war, mit reichlich Ketchup und gebratenen Zwiebeln.
»Okay, das reicht«, sagte meine Mutter irgendwann. »Quentin, hattest du einen schönen Tag?«
»Ja«, antwortete ich. »Ich lerne für die Prüfungen, mehr oder weniger.«
»Nicht zu glauben, dass das deine letzte Schulwoche ist«, seufzte mein Vater. »Es kommt mir so vor, als wäre es erst gestern gewesen …«
»Wir sind so stolz auf dich«, sagte meine Mutter. »Aber wir werden dich schrecklich vermissen.«
In meinem Kopf ging die Sirene los : WARNUNG – NOSTALGIE-ALARM – WARNUNG – NOSTALGIE-ALARM. Tolle Leute, meine Eltern, aber ab und zu hatten sie Anfälle von grenzenloser Sentimentalität.
»Freut euch nicht zu früh. In Englisch kann ich immer noch durchfallen.«
Meine Mutter lachte, dann sagte sie : »Ach, rate mal, wenn ich gestern im YMCA gesehen habe? Betty Parson. Sie sagt, Chuck ist von der University of Georgia angenommen worden. Das freut mich für ihn; er hat es in der Schule nicht leicht gehabt.«
»Chuck ist ein Arschloch«, sagte ich.
»Na ja, er war ein Raufbold«, entgegnete mein Vater, »und seine Manieren sind nicht die besten.« Typisch : bei meinen Eltern war niemand einfach ein Arschloch. Die Leute hatten immer Handicaps und konnten nichts dafür, dass sie ätzend waren : Sozialisationsstörungen oder Borderline-Syndrom oder sowas.
»Der Arme hatte immer Lernschwierigkeiten«, erklärte meine Mutter. »Er schleppt alle möglichen Probleme mit sich herum – wie jeder von uns. Ich weiß, du kannst deine Schulkameraden nicht objektiv sehen, aber wenn du älter bist, fängst du an alle Leute – die netten und die unangenehmen – einfach als ganz normale Menschen zu betrachten. Sie sind auch nur Menschen, die ein Recht darauf haben, geliebt zu werden. Mit unterschiedlichen Störungen, Neurosen, Problemen mit sich selbst. Jedenfalls mag ich Betty, und ich habe immer gehofft, dass Chuck sich noch mausert. Ich finde es gut, dass er studiert. Du nicht?«
»Ehrlich, Mama, es ist mir ziemlich egal, was der Typ macht.« Im Stillen fragte ich mich : Wenn im Grunde alle Menschen gut waren, warum waren meine Eltern so wütend auf die Politiker in Israel und Palästina? Über die sprachen sie nämlich nicht, als wären sie ganz normale Menschen.
Mein Vater kaute, dann legte er die Gabel hin und sah mich an. »Je länger ich in meinem Beruf arbeite«, sagte er, »desto mehr habe ich das Gefühl, dass es uns Menschen an Spiegeln fehlt. Anderen fällt es schwer, uns zu zeigen, wie wir aussehen, und uns fällt es schwer, anderen zu zeigen, wie es uns geht.«
»Das hast du schön gesagt«, sagte meine Mutter. Es war rührend zu sehen, wie gern sich meine Eltern hatten. »Und dazu kommt noch, dass wir anscheinend Schwierigkeiten haben zu akzeptieren, dass andere Leute auch nur ganz normale Menschen sind. Entweder wir verehren sie wie Götter, oder wir verachten sie wie Tiere.«
»Das ist wahr. Das Bewusstsein ist ein trübes Fenster. So habe ich es, glaube ich, noch nie gesehen.«
Ich lehnte mich zurück. Und lauschte. Ich hörte etwas über Margo und über Spiegel und über Fenster. Chuck Parson war ein ganz normaler Mensch. Wie ich. Auch Margo Roth Spiegelman war ein ganz normaler Mensch. Ich hatte sie nur noch nie so gesehen; das war immer der Fehler gewesen, wenn ich sie mir vorgestellt hatte. Die ganze Zeit – nicht erst, seit sie fort war, sondern die ganzen letzten zehn Jahre – hatte ich mir ein Bild von ihr
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