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Margos Spuren

Margos Spuren

Titel: Margos Spuren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Green
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Annahme – zumal ich das Buch nicht gelesen hatte –, aber ich hatte für ihn Partei ergriffen und argumentierte dementsprechend.
    Wegen der verkürzten Prüfungswoche war Mittwoch der letzte Schultag für uns. Es war schwer, der Endzeitstimmung zu entkommen : das letzte Mal, dass ich mit den anderen vor dem Musikraum stand, im Schatten der Eiche, die Generationen von Orchesterstrebern beschirmt hatte. Das letzte Mal, dass ich mit Ben in der Cafeteria Pizza aß. Das letzte Mal, dass ich an einem der Pulte saß und mit verkrampfter Hand eine Klassenarbeit auf blau liniertes Papier kritzelte. Das letzte Mal, dass ich zur Uhr starrte. Das letzte Mal, dass mir Chuck Parson mit seinem blöden Grinsen im Gang entgegenkam. O Gott, sogar für Chuck Parson hatte ich nostalgische Gefühle. Es war wie eine Krankheit.
    So ähnlich musste es Margo auch gegangen sein. So akribisch, wie sie alles plante, musste sie genau gewusst haben, wann ihr letzter Tag war, und nicht einmal sie konnte völlig immun gegen den Abschied sein. Denn sie hatte auch schöne Zeiten hier erlebt. Am letzten Tag war es schwer, sich an die schlechten zu erinnern. Es war ihr Leben, das sie hier gelebt hatte, genau wie ich meins. Die Stadt war vielleicht falsch, aber die Erinnerungen sind es nicht. Alles, was ich hier erlebt hatte, das Glück und das Leid und die Freundschaft und die Gewalt und die großen Gefühle wallten wieder in mir auf. Die weiß verputzten Betonwände. Meine weißen Wände. Margos weiße Wände. So lange waren wir hier drin gefangen gewesen, wie Jonas im Bauch seines Wals.
    Im Laufe des Tages kam mir der Verdacht, dass vielleicht dieses Gefühl der Grund dafür war, dass sie alles so gründlich plante : Auch wenn man wegwollte, war der Abschied schwer. Man musste vorbereitet sein, und vielleicht waren ihre Besuche in der Ladenzeile, wo sie ihre Pläne aufschrieb, ihr emotionales Training für den großen Tag gewesen – Margos Art, sich in ihr Schicksal hineinzudenken.
    Am Nachmittag hatten Ben und Radar eine Marathon-Orchesterprobe, damit sie am Freitag auf der Abschlussfeier mit »Pomp and Circumstances« auch sicher rockten.
    Lacey bot an, mich heimzufahren, doch ich wollte lieber mein Schließfach ausräumen, weil ich keine Lust hatte, später noch mal herzukommen und wieder in dieser perversen Nostalgie zu ertrinken.
    Mein Schließfach war die reinste Müllkippe – halb Abfalleimer, halb Antiquariat. Margos Bücher waren ordentlich gestapelt gewesen, hatte Lacey gesagt, als wollte sie am nächsten Tag wiederkommen. Ich schob einen Mülleimer herüber und schloss meine Schranktür auf. Als Erstes nahm ich das Foto von Radar und Ben und mir beim Grimassenschneiden von der Tür ab. Ich steckte es in den Rucksack, und dann begann ich den gesammelten Abfall des letzten Jahres auszumisten. In Papierschnipsel gewickelte Kaugummis, leere Kulis, fettige Servietten. Das meiste landete im Mülleimer. Die ganze Zeit dachte ich : Ich tue das nie wieder, ich komme nie wieder her, ich habe nie wieder ein Schließfach hier, Radar und ich schreiben uns nie wieder Briefchen in Mathe, ich sehe nie wieder Margo im Flur. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass mir so viele Dinge nie wieder passierten.
    Irgendwann war es zu viel für mich. Ich hielt das Gefühl nicht mehr aus. Mit einem Arm griff ich tief in das Schließfach und schob alles – Fotos und Aufzeichnungen und Bücher – in den Mülleimer. Dann ließ ich das Schließfach offen stehen und ging. Als ich am Musikraum vorbeikam, hörte ich die gedämpften Klänge von »Pomp and Circumstances«. Es war heiß draußen, aber nicht zu heiß. Es war erträglich. Ich kann auch zu Fuß nach Hause gehen , dachte ich zum ersten Mal in meinem Leben. Und so machte ich mich auf den Weg.
    So lähmend und verstörend all die Niewieders gewesen waren, der letzte Abschied fühlte sich großartig an. Kristallklar. Befreiung in ihrer reinsten Form. Alles, was wichtig gewesen war, bis auf ein mickriges Foto, war im Müll, und es fühlte sich toll an. Ich begann zu laufen, wollte Abstand zwischen mich und die Schule bringen.
    Der Abschied war schwer – bis ich ihn hinter mir hatte. Dann war es das Leichteste auf der Welt.
    Als ich rannte, spürte ich zum ersten Mal, dass ich Margo wurde. Ich wusste : Sie war nicht in Orlando. Sie war nicht in Florida. Der Aufbruch fühlte sich zu gut an, wenn man den Abschied hinter sich hatte. Hätte ich ein Auto gehabt, statt zu Fuß zu gehen, wäre ich

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