Maria, ihm schmeckts nicht!
Vico Vaglia No. 9.
»Hier, in diese schöne Haus, binne geboren im Jahr
1938.« Antonio strahlt mich aus seinen hellblauen
Augen an und zeigt auf das Häuschen. Es ist offenbar unbewohnt, die Fenster sind verrammelt, in der unteren Etage klebt ein Plakat auf der Tür, das für eine Tanzveranstaltung wirbt. Nebenan hat ein reicher
Mann großzügig renoviert, aber es ist das einzige
bewohnte Haus im VicoVaglia.
»Gegenüber wohnte Scarperi, der Musiklehrer«,
sagt Antonio und deutet dann die Treppe hinauf, die sich im Dunkel der Häuser verliert. Wir gehen weiter und gelangen schließlich zur Burg. Nun stehen wir an einer Mauer und sehen ins Tal hinab. Es ist windig.
»Wir sollten in eine Café gehen, iste kalter heute.«
Als wir das Café Montefiori betreten, nimmt Anto-
nio seine Schirmmütze ab und läuft geradewegs auf
den Mann hinter der Theke zu. Dieser umarmt Anto-
nio heftig. Nachdem sich die beiden abgebusselt ha-
ben, kommen sie gemeinsam hinter der Theke hervor
und der Barmann gibt mir die Hand.
»Daniele wird er mich unterbreche, wenne ich sage
falsche Dinge.«
»Was denn für falsche Dinge?«, frage ich.
»Setz dich, meine liebe Jung.«
Und dann beginnt Antonio zu erzählen. Er berich-
tet davon, wie sein Vater Calogero auf Sizilien geboren wurde, wie er im Kindesalter mit seiner ganzen
Familie – inklusive Onkel und Tanten zwanzig Ange-
hörige – zuerst in Kalabrien ihr Glück versuchten,
dort aber nicht wohlgelitten waren und schließlich in Campobasso landeten, in culo al mondo.
»Antonio, warum erzählst du mir das alles?«
»Weile du wissen soliste. Sonste weiß niemand auf
der Welte. Unde wäre sehr schade, ich sterbe viel-
leicht morgen und niemand hab erzählt die ganze
Dingeda.«
Jetzt verstehe ich so manches. Das ganze Kommo-
dentheater war ganz offensichtlich bloß ein Vorwand, um mich hierher in dieses Café zu bringen. Womöglich hätte ich die Reise nicht gemacht, wenn es nicht einen praktischen Grund gegeben hätte. Oder ich
hätte ihn immer und immer wieder vertröstet. Dann,
das scheint seine Sorge zu sein, hätte er darüber sterben können.
»Aber warum ich?«
»Weil einfach biste keine dumme Salat.« Daniele
lacht und stellt Kaffee auf den Tisch in seiner kleinen Bar, in der außer uns keine Menschenseele sitzt.
Antonio Carlo Marcipane wurde am 2. November
1938 in Campobasso geboren. Seine Mutter war An-
na, die Schöne, wie sie in der Nachbarschaft hieß. Sie heiratete 1933 den Sizilianer, wie Calogero Marcipane gerufen wurde. Es war eine Liebeshochzeit,
wenn auch nicht frei von Misstönen, denn Annas Fa-
milie, die Scalferos, waren reich und verfügten über viel fruchtbares Land und Vieh. Calogero hingegen
gehörte zur bettelarmen Kaste der Zugezogenen, von
denen keiner genau sagen konnte, was sie hierher
verschlagen hatte. In Kalabrien, so erzählte man sich, seien sie schnell wieder vertrieben worden. Dort
hatten Familien das Sagen, deren Gesetze sich von
denen in Sizilien ziemlich stark unterschieden. Für Marcipane und seine Leute war dort eindeutig kein
Platz. Und auch in Campobasso trafen sie es nicht
besonders komfortabel an. Die Marcipanes wohnten
am Fuße des Nordhanges, im Tal, von wo die Tagelöh-
ner, meist Zigeuner, jeden Morgen zum Marktplatz
gingen. Dort ließen die reichen Bauern sie abholen, um sie auf ihren Feldern und in ihren Weinbergen
arbeiten zu lassen. Es muss im August 1931 gewesen
sein, als der Tagelöhner Calogero Marcipane zum
ersten Mal die schöne Anna sah.
»Schau sie nicht an«, riet ihm sein Bruder, »es wird nur Ärger geben.«
»Warum, was ist mit ihr?«, fragte Calogero und
blickte weiter zu dem Mädchen hinüber, das unter
einem Baum saß und den Männern bei der Arbeit
zusah.
»Sie ist die Tochter von Scalfero. Er schätzt es nicht, wenn wir seiner Tochter nachschauen.«
»Dann muss er sie einsperren«, gab Calogero
verdrossen zurück und bemühte sich, nicht mehr in
ihre Richtung zu starren.
Wann immer er konnte, arbeitete Calogero nun für
den Großgrundbesitzer Scalfero. Er half, die Schafe zu hüten, erntete Oliven, schnitt Weinstöcke und
pflügte Felder, aber Anna bekam er nicht mehr zu
Gesicht. Schließlich suchte er Sonntag für Sonntag
die Kirchen ab, ging jeden Abend in den Gottes-
dienst, um sie schließlich in der Kirche San Giorgio zu finden, wo sie mit ihren Schwestern in der ersten Reihe saß.
Er hockte sich in die Bank dahinter und flüsterte
ihr ins Ohr:
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