Maria, Mord und Mandelplätzchen
Raum.
Wir anderen sitzen da wie bestellt und nicht abgeholt. Ich, weil ich nicht weiß, was hier los ist, Frieda, Anneliese und Doris befinden sich gedanklich wohl in der Vergangenheit. Keine spricht. Eiszeit.
Tante Hedi kehrt zurück. »Ich hab ihn fortgeschickt.« Sie trägt ein Tablett mit einem Bowlengefäß und fünf Gläsern, deren Boden jeweils einen knappen Zentimeter hoch mit einer grünen Flüssigkeit bedeckt ist. Wieder ringt Doris nach Luft.
»Erinnert ihr euch?« Tante Hedi fragt mit einem Lächeln, das ihre Augen nicht erreicht. »An jenem Abend haben wir auch Bowle getrunken. Wo waren wir da noch? Bei dir, Frieda?«
Frieda schaut angestrengt. »Lass mich überlegen«, sagt sie.
Während sie noch nachdenkt, was bei Frieda meist etwas länger dauert, kommt fast tonlos von Doris: »Wir waren bei mir.«
»Ach ja.« Tante Hedis Stimme ist etwas zu schrill. »Wir waren bei dir. Wie konnte ich das denn vergessen?« Sie atmet tief ein, und ich könnte schwören, sie wusste es ganz genau. »Anneliese, Frieda, habt ihr das auch vergessen?«
Die beiden spüren inzwischen, dass etwas abläuft, was sie nicht fassen können, und rutschen unruhig auf ihrem Allerwertesten hin und her.
»Stimmt«, bricht es auf einmal aus Anneliese hervor. »Das war doch, als der Fritz plötzlich auftauchte. Wisst ihr noch, wie der völlig überrascht war, als er uns sah? Hedi, du musst es doch wissen, Fritz war doch dein Verlobter! Meine Güte, sein entsetztes Gesicht vergess ich nie.« Sie lacht. »Na klar! Das war an einem Adventssonntag!« Sie runzelt die Stirn und spricht langsamer. »Und war es nicht an diesem Adventssonntag … als er …« Mit einem Mal fährt sie sich entsetzt mit der Hand über den Mund.
Plötzlich wird auch mir bewusst, dass heute vor sechzig Jahren Tante Hedis Verlobter Fritz bei einem Autounfall ums Leben kam. Das also ist des Rätsels Lösung?
»Tante Hedi«, sage ich, aber meine Stimme ist ein einziges Krächzen. Ich räuspere mich. Nein, das hier ist keine kritische Situation, Tante Hedi ist zwar ein Mensch mit verrückten Einfällen, aber mehr nicht, versuche ich mich zu beruhigen.
»Ja, heute ist es sechzig Jahre her«, erwidert Tante Hedi tonlos und stellt das Tablett auf den Tisch. Doris betrachtet die Gläser mit der grünen Flüssigkeit wie ein hypnotisiertes Kaninchen. »Aber Fritz kam nicht, um mit dir über mein Weihnachtsgeschenk zu sprechen, nicht wahr?« Sie sieht Doris mit einer Bitterkeit an, die meinen Mund schlagartig austrocknen lässt.
»Ich weiß es nicht mehr«, flüstert Doris.
»Du weißt es nicht mehr?« Tante Hedis Stimme ist wieder schrill. »Soll ich deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen? Kannst du dich nicht daran erinnern, wie er aufgebracht ins Zimmer stürmte? Deine Mutter gab sich noch Mühe, ihn zurückzuhalten, aber er ist an ihr vorbei, wir konnten ihn ja alle deutlich auf dem Flur hören. Und kannst du dich nicht daran erinnern, dass er ein Kuvert in der Hand hatte, damit herumwedelte und, bevor er uns andere überhaupt nur wahrnahm, rief, darüber müsse er mit dir sprechen? Kannst du dich daran überhaupt nicht mehr erinnern?«
Tante Hedi wechselt von aufgebracht in ruhig, und ich wundere mich, wie sie diesen Schalter so einfach umdrehen kann. Sie reicht jedem von uns ein Glas. Langsam und konzentriert. Als stünde alles auf dem Spiel und auf jedem Glas ein Name. Als sie Doris das vorletzte Glas gibt, sagt sie: »Der geheime Bodensatz, so wie früher. Daran wirst du dich aber doch erinnern?«
Die beiden anderen kichern mit spürbarem Unbehagen, aber Hedi und Doris bleiben ernst. Hedi reckt das Kinn vor. »Gebt mir die Gläser«, sagt sie. Automatisch strecke ich ihr meines entgegen, und sie füllt eine Kelle Bowle auf das grüne Zeug. »Noch nicht trinken«, ordnet meine Tante an, »wir wollen doch alle zusammen anstoßen.«
Ich komme mir vor wie in einem Marionettentheater.
»Fritz’ Tod war kein Unfall«, sagt meine Tante.
Automatisch fällt mein Blick auf Doris, die die Zähne aufeinanderpresst.
»Ist jetzt knapp zwei Monate her, dass Fritz’ Schwester gestorben ist«, spricht Tante Hedi weiter. »Ich hab all die Jahre engen Kontakt zu ihr gehabt; wir hatten ja sonst niemanden, der uns mit Fritz verband. Aber erst jetzt, kurz bevor sie starb, hat sie mir die Einzelheiten von damals anvertraut.«
»Was soll das jetzt?«, fragt Doris unwirsch.
»Wart’s ab, du wirst es gleich erfahren«, sagt Tante Hedi bitter. »Lore hatte
Weitere Kostenlose Bücher