Maria, Mord und Mandelplätzchen
viele Jahre hinweg immer zu Beginn seiner gleichnamigen Show anstimmte. Aber irgendwie beruhigt mich das nicht. Andererseits will ich jetzt nicht wirklich wissen, was sie vorhat, versuche, meine Alarmglocken zu ignorieren und Tante Hedi in ein normales Alltagsgespräch zu verwickeln.
Als es um halb vier an der Tür klingelt, habe ich das Gefühl, meine Tante ist zumindest ein Stück weit wieder die Alte.
Eine Stunde später ist der Kuchen verputzt und die dritte Flasche Prosecco angebrochen. Anneliese hat bestimmt drei Stück Apfelkuchen verzimmert, man sieht ihr aber überhaupt nicht an, dass sie so gern isst. Frieda hat Klaben und Kuchen gemixt, nur Doris hat sich vornehm zurückgehalten. Sie machte neuerdings SIS , verkündet sie,
Schlank im Schlaf,
und streicht sich über ihre ohnehin schon schlanke Silhouette. Um diese Uhrzeit dürfe sie keine Kohlenhydrate mehr essen, nur Eiweiß wäre noch erlaubt. Prosecco trinkt sie aber trotzdem. Soviel ich weiß, hat Alkohol mehr Kohlenhydrate als Eiweiß. Ist mir aber egal, denn die Jugendfreundinnen tuscheln aufgeregt über die kleinen Umschläge, die auf dem Tisch liegen.
»Finger weg«, mahnt Tante Hedi, »die kommen erst zum Einsatz, wenn unser Überraschungsgast da ist.«
Ich runzle die Stirn, bestimmt zum dritten Mal. Noch immer kann ich mir keinen Reim machen darauf machen, was sie plant. Ein knackiger Stripper, vier Umschläge und vier alte Frauen. Mich lassen wir jetzt einfach mal unter den Tisch fallen, nennwertmäßig, denn bei aller Verrücktheit kann ich mir nicht vorstellen, dass sich meine Tante ein amouröses Abenteuer für mich ausgedacht hat und ihre Freundinnen mittels Hörrohr an der Tür lauschen lassen will.
»Könnt ihr euch noch erinnern?«, fragt sie, und mit einem Mal wird ihre Stimme schriller. »An damals? Auf den Tag genau sechzig Jahre ist es her. Auch damals hatten wir eine Adventsfeier. Wir vier. Auch damals gab es Apfelkuchen und Klaben. Prosecco kannten wir nicht, aber eine Flasche Sekt, die konnten wir uns leisten, der Krieg war ja schon ein paar Jahre vorbei, und wir waren auf dem Weg in eine wunderbare Zukunft.«
Ich sehe, wie die anderen anfangen zu überlegen. Sie schauen sich an. Stummer Austausch. Meine Unwissenheit macht mich fast verrückt. Was geht hier vor? In diesem Moment klingelt es an der Tür. Heftig, nicht zaghaft. Derjenige, der klingelt, weiß, dass er erwartet wird. Der Weihnachtsmann.
Tante Hedi atmet durch, erhebt sich, streckt den Rücken und schiebt das Kinn nach vorn. Ein Lächeln, das ich süffisant nennen würde, wenn ich nicht wüsste, dass meine Tante eigentlich anders ist, liegt auf ihrem Gesicht.
»Nun kommt meine Überraschung.« Mit diesen Worten schreitet sie Richtung Eingangstür.
Schnell beuge ich mich vor. »Weiß eine von euch, was hier los ist? Was meint sie mit der Andeutung an die Adventsfeier vor sechzig Jahren?«
Alle drei schütteln den Kopf. Doris allerdings scheint angeschlagen zu sein, ich habe das Gefühl, dass sie im Moment nur eines möchte: weg hier.
Das verunsichert mich. Was hat sich denn an jenem Adventnachmittag zugetragen, dass es plötzlich diese Spannung gibt, nur weil Tante Hedi das
Damals
erwähnte? Seit vielen Jahren schon gehöre ich zur Vierten-Advent-Runde, und immer war es lustig und fröhlich. Macht dieses ominöse Jubiläum nun alles anders?
Die Tür geht auf.
»Das war der Weihnachtsmann«, verrät Tante Hedi, und sofort lachen die drei Jugendfreundinnen erleichtert.
»Na, und wo bleibt er nun?«, will Anneliese wissen.
»Nicht so hastig«, tadelt Tante Hedi amüsiert, »er ist kein gewöhnlicher Weihnachtsmann.« Sie winkt vieldeutig mit einer CD , die sie in der Hand hält, und ein eigenartiges Lächeln umspielt ihre Lippen, als sie sie einlegt. Überrascht horche ich auf, denn die Musik katapultiert uns augenblicklich zurück in die sechziger Jahre: »Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein …«, Heinos klangvolle Stimme erfüllt das Wohnzimmer, »… und Italiens blaues Meer im Sonnenschein …«
Im ersten Moment lachen alle.
»Hört genau hin, vielleicht werden ja Erinnerungen der einen oder anderen Art wach«, sagt Tante Hedi, und für mich spricht sie in Rätseln. Aber auch Frieda und Anneliese scheinen nachzudenken. Nur in Doris’ Miene bewegt sich nichts. Als Heino musikalisch von Lale Andersen abgelöst wird, greift Frieda unbekümmert zur Pulle und gießt sich ein weiteres Glas Prosecco ein. »Herrlich, diese alten Schlager«, sagt sie.
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