Maria, Mord und Mandelplätzchen
eine Panikattacke«, antwortet sie automatisch. »Vor zwei Tagen. Seitdem kann ich nicht mehr schlafen. Die Bilder verfolgen mich ständig.«
»Die Bilder von damals?«
Sie nickt, wischt sich nervös über die Stirn. »Bitte, verschreiben Sie mir meine Medikamente, damit ich endlich wieder schlafen kann.«
»Damit ist es nicht getan, das wissen Sie, oder?« Der Blick der Ärztin geht ihr durch und durch. »Wir müssen gemeinsam an Ihrem Trauma arbeiten. Eine posttraumatische Belastungsstörung wie die Ihre kann man nicht nur mit Antidepressiva behandeln. Da hilft vor allem darüber reden, reden, reden.«
»Was soll das denn bringen? Das macht sie auch nicht wieder lebendig!«
»Frau Walter,
Sie
sind nicht tot! Ihrer Familie kann ich nicht mehr helfen, Ihnen schon!«
Anjas Finger zittern, als sie sich eine Strähne aus dem Gesicht streicht. »Ich möchte einfach nicht mehr daran denken.«
»Ich weiß, dass Sie diese Tragödie gern vergessen möchten. Aber allein schaffen Sie das nicht. Bitte lassen Sie sich von mir helfen.«
In der Apotheke in der Nähe ihrer Wohnung holt sie sich die verschriebenen Medikamente. »Lassen Sie uns darüber reden, was damals passiert ist. Es wird Ihnen besser gehen, wenn Sie es jemandem erzählen«, hatte die Ärztin beim Abschied gesagt. Als ob man durch ein Gespräch alles wieder gut machen könnte! Auf ihrem iPod hört sie ein Stück aus der
Tosca
von Puccini, während sie in der Schlange ansteht. Die Musik in ihren Kopfhörern ist ihr Schutzwall. Zumindest akustisch ist sie vor Weihnachten abgeschirmt. Kein
Last Christmas,
welches in den Läden und im Radio hoch und runter gespielt wird. Die grelle, überladene Scheinheiligkeit dieses Festes widert sie an. Jedes Jahr versucht sie sich erneut vor der Reizüberflutung des Advents zu schützen. Aber jedes Jahr scheint es noch mehr Weihnachtsschmuck, mehr Verkaufsstände auf dem Striezelmarkt und mehr Weihnachtsliederbeschallung zu geben als im Jahr davor.
Als sie zu ihrem Wagen kommt, bleibt sie überrascht stehen. Dieses Mal ist es eine weiße Rose, die am Scheibenwischer steckt. Ein Briefumschlag ist daran befestigt. Ihre Hände zittern, als sie die schöne runde Handschrift liest.
Anja, ich war in der Kirche ganz nah bei dir. Ich möchte dich gern wiedersehen.
Ihr Verehrer war da? Er war im Weihnachtskonzert, als sie ihre Panikattacke hatte? Sofort schämt sie sich. Sie möchte nicht, dass er sie so hilflos, so verstört erlebt. Dieser Unbekannte, der ihr seit wenigen Wochen immer wieder kleine Nettigkeiten und Briefchen schickt, ist ihr Lichtblick. Seit es ihn in ihrem Leben gibt, hat sie morgens endlich wieder einen Grund, sich auf den Tag zu freuen. Endlich gibt es seit der Tragödie, die ihr ganzes Leben von einem auf den anderen Tag veränderte, ein bisschen Hoffnung auf Glück.
Zwanzig Jahre ist es her, dass ihr alkoholisierter Vater in der Weihnachtsnacht erst ihre Mutter, dann ihren kleinen Bruder und anschließend sich selbst mit einem Messer tötete. Seitdem sehnt sie sich nach nichts so sehr wie nach Zuneigung und Wärme. Als Heimkind ist sie groß geworden, einsam, abgeschrieben, ohne Zukunft, ohne Perspektive. Alleingelassen in einer Welt, die sie ablehnte. Keine Pflegefamilie wollte das traumatisierte Mädchen haben, das erst nach drei Jahren mühsam seine Sprache wiederfand. Nie hatte sie mit jemandem über Einzelheiten jener Weihnachtsnacht gesprochen, in der man sie als Achtjährige völlig verstört aus dem Bettkasten zog, vor dem ihr toter Bruder in seiner Blutlache lag – die kleine Hand hilfesuchend nach seiner Schwester ausgestreckt. Kein Therapeut hatte je ihr Vertrauen gewonnen, hatte erfahren, was der Auslöser für diese Familientragödie gewesen war. Die Schuldgefühle, dass sie sich versteckt, dass sie ihren vierjährigen Bruder nicht vor dem Amok laufenden Vater beschützt hatte, waren zu groß gewesen, als dass sie sich noch einmal mit den Geschehnissen dieser Nacht befassen wollte. Nur der treue dickleibige Henning aus dem Heim war ein Stück zu ihr durchgedrungen und war ihr Freund geworden. Er, der mit zwölf Jahren seine Eltern bei einem Brand verloren hatte, schien ihren tiefen Schmerz zu verstehen.
Sie will den Brief des Unbekannten schon in den Umschlag zurückstecken, als sie die Eintrittskarte bemerkt. Dieses Mal ist es
Schwanensee.
Ich erwarte dich vor dem Haupteingang der Semperoper,
hat er auf die Rückseite geschrieben.
Tschaikowskis Schwanensee,
denkt sie. Eines der
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