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Maria, Mord und Mandelplätzchen

Maria, Mord und Mandelplätzchen

Titel: Maria, Mord und Mandelplätzchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Stöger
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Fehler war. Du bist noch lange nicht so weit, es ohne therapeutische Hilfe zu schaffen.«
    Die Tasse in ihrer Hand beginnt zu zittern. Hastig trinkt sie einen Schluck und verbrennt sich dabei die Zunge.
    »Bitte, Anja, geh wieder hin!«
    Sie schluckt. Ihre Zunge fühlt sich taub an. »Diese Frau hat keine Ahnung! Ihr Therapeutengeschwafel hilft mir nicht.«
    »Aber du
musst
weitermachen«, ermahnt er sie und rückt ein Stück näher. Seine grauen Augen hinter den Brillengläsern sehen sie eindringlich an. »Du siehst doch, was heute passiert ist!«
    »Ich war zu leichtfertig. Ich hätte nicht in die Kirche gehen sollen. Es kommt nicht wieder vor.« Dass sie die Konzertkarte gestern in ihrem Briefkasten gefunden hat, verschweigt sie ihm. Auch die rote Rose, die ein paar Tage vorher am Scheibenwischer ihres Wagens steckte. Sie hatte gehofft, ihren heimlichen Verehrer in der Kirche zu treffen. Jetzt ist es ihr peinlich, dass sie einem Fremden auf den Leim gegangen ist, der nicht einmal zum Konzert erschienen ist. Sie schämt sich für ihre Einsamkeit, für die Sehnsucht nach einem Partner, nach einem Mann an ihrer Seite, der nicht nur ein Freund ist wie der dicke Henning.
    »Anja, du kannst Weihnachten nicht auf Ewigkeit aus deinem Leben verbannen! Nicht genug, dass du dich Heiligabend hier in deiner Wohnung einschließt, dass du keine meiner Einladungen an den Feiertagen annimmst. Du kannst dich nicht verstecken. Du
musst
dich endlich deinem Trauma stellen!«
    »Mir geht es gut. Ich pfeife auf die Feiertage! Die gehen vorbei.«
    »In der ganzen Stadt, im Supermarkt, im Radio, im Fernsehen – überall ist Weihnachten!«
    »Dann gehe ich eben nicht mehr vor die Tür.« Ihr Tonfall wirkt trotzig, sie stellt die Teetasse geräuschvoll auf den Tisch.
    Ihr Freund schüttelt verzweifelt den Kopf. »So kannst du nicht weitermachen, Anja. Was wäre gewesen, wenn ich dich heute nicht gefunden hätte?«
    Sie hat keine Antwort darauf. Allein hätte sie den Heimweg nicht geschafft, das weiß sie.
    »Lass dir helfen, bitte!«, versucht er es noch einmal.
    »Henning«, flüstert sie. »Du hast nicht erlebt, was ich erlebt habe. Sonst würdest du mich verstehen.«
    Er schaut sie lange an, streicht sanft über ihre Wange. Ohne ein weiteres Wort steht er auf und verlässt ihre Wohnung.
     
    Die Praxis hat sich kaum verändert. Sie hat das Gefühl, als wäre sie erst letzte Woche zur Tür hinausgegangen. Die Wände sind noch immer in einem hellen Pastellton gestrichen, impressionistische Drucke hängen an jeder Wand. Lediglich die Blumen wurden mittlerweile durch kitschigen Weihnachtsschmuck ersetzt. Sie versucht, die Kieferngestecke mit den kleinen roten Plastikkugeln zu ignorieren. Im Wartezimmer ist es drückend warm. Oder schwitzt sie vor Aufregung? Sie hat die letzten Nächte kaum geschlafen. Am Ende ihrer Kräfte hat sie heute Morgen in der Praxis ihrer Therapeutin angerufen. Zum Glück war gerade eine Patientin abgesprungen, sonst hätte sie erst im Februar einen Termin bekommen. Sie kann es noch immer nicht fassen. Es scheint der Wahnsinn dieser modernen Gesellschaft zu sein, in der Burnout und Depressionen an der Tagesordnung stehen, so dass Hilfesuchende auf Termine bei Psychiatern und Psychologen inzwischen Wochen bis Monate warten müssen. Sie schüttelt unbewusst den Kopf. Bis dahin kann es für Depressive wie sie längst zu spät sein.
    »Frau Walter?« Die Stimme der Ärztin reißt sie aus ihren Gedanken. Fahrig springt sie auf, ihre Tasche fällt auf den Boden.
Was mache ich hier,
fragt sie sich zum wiederholten Male. Schon die letzten Jahre bei allen möglichen Therapeuten hatten keine Verbesserung ihres Krankheitsbildes gebracht. Aber sie musste die Ärztin aufsuchen, sie braucht dringend Nachschub an Antidepressiva. Tabletten, die für Schlaf sorgen und für einen Schleier des Vergessens.
    »Bitte setzen Sie sich.« Ihre Therapeutin lächelt einnehmend. Sie ist zierlich, mindestens einen Kopf kleiner als sie selbst. Dennoch wirkt sie kraftvoll und agil. Die Fältchen unter ihren Augen sind im letzten halben Jahr etwas tiefer geworden. Das Leid der Menschen, die tagtäglich ihre Hilfe suchen, geht offensichtlich auch an ihr nicht spurlos vorbei.
    »Frau Walter, es ist gut, dass Sie wieder da sind.« Die Ärztin liest in der vor ihr liegenden Krankenakte. Sie ist dick und vollgeschrieben. Sie schaut zu ihrer Patientin auf. »Mir war klar, dass Sie spätestens an Weihnachten wieder bei mir sitzen.«
    »Ich hatte wieder

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