Maria, Mord und Mandelplätzchen
flehen sie um Hilfe an …
Übelkeit steigt in ihr auf, sie hat das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Hektisch öffnet sie ihre Bluse ein Stück, reißt einen Knopf ab. Aber sie bemerkt es nicht. Ihr Atem geht stoßweise, während sie mit einer Hand ihr Dekolleté massiert.
Das Orgelstück brandet erneut auf. Die Töne steigen von den Orgelpfeifen auf und fallen wie ein Sturzregen von der Decke der Kirche herab. Sie hatte sich so auf das Konzert gefreut. Bachs
Toccata
und
Fuge in F-Dur.
Aber nun kann sie es nicht genießen. Innerhalb von Sekunden haben sich nasse Schweißflecken unter ihren Armen gebildet, während ihr Blick suchend den Gang entlanggleitet, von wo aus die Tür nach draußen führt. Zwischen ihr und dem Fluchtweg sitzen sechs anmutig lauschende Kirchenbesucher.
Beruhige dich,
denkt sie verzweifelt.
Konzentriere dich auf deinen Atem!
Doch sie schnappt nur noch mehr nach Luft. Sie weiß, dass sie kurz davor steht zu hyperventilieren. Sie versucht es mit der Atemtechnik, die ihr ihre Therapeutin in mehreren Sitzungen beigebracht hat. »Autogenes Training wird Ihnen helfen, Ihre Panikattacken in den Griff zu bekommen«, hatte die Ärztin versprochen. Doch es hilft ihr nicht. Sie bekommt keine Luft.
Kalter Schweiß steht ihr auf der Stirn, und rote Sterne beginnen vor ihren Augen zu tanzen. In diesem Moment weiß sie, dass sie den Kampf verloren hat. Mit letzter Kraft springt sie auf.
Entschuldigungen flüsternd drängt sie sich durch die Konzertbesucher dem Mittelgang entgegen. Dass sie böse Blicke und Beschimpfungen erntet, stört sie nicht. Sie hat das Gefühl, ohnmächtig zu werden, wenn sie nicht sofort die Kirche verlässt. Wenn sie noch länger der unbändigen Gewalt dieser Musik ausgesetzt bleibt. Ein letztes Aufbäumen der Orgel fegt über sie hinweg, als die schwere Holztür hinter ihr ins Schloss fällt.
Auf der Treppe vor der Kirche bleibt sie stehen und saugt die kalte Luft des Winterabends in sich auf. Kleine Schneeflocken tanzen in der Luft, von einem Glühweinstand auf dem Neumarkt weht der Klang eines Weihnachtsliedes herüber, vermischt sich mit der Orgelmusik, die dumpf aus der Frauenkirche dringt. Der süße Duft von gebrannten Mandeln steigt ihr in die Nase.
Das Bild in ihrem Geist ist zurück, sie kann es auch hier draußen nicht abschütteln.
Blut. Überall. Unmengen von Blut. Eine kleine weiße Hand, die sie im letzten Aufbäumen des Lebens anfleht.
Sie würgt, drückt eine Hand vor den Mund, stolpert die Kirchentreppe hinab. An deren Fuß übergibt sie sich, hustet, würgt erneut. Menschen gehen an ihr vorbei, schütteln die Köpfe. »Wie kann man um diese Zeit schon so betrunken sein?«, hört sie jemanden sagen. Aber es ist ihr egal. Als es endlich vorbei ist, lehnt sie sich an die Sandsteinmauer der Frauenkirche. Ihr Körper schmerzt, sie fühlt sich ausgelaugt und leer.
Du bist so dumm gewesen hierherzukommen,
flucht sie stumm und versucht, ihren Atem zu kontrollieren.
Es war doch klar, dass so etwas passiert. Leichtfertig bist du gewesen. Neugierig auf einen Unbekannten, der dir die Konzertkarte in den Briefkasten geworfen hat.
Der Platz neben ihr war leer geblieben. Warum hatte er ihr die Konzertkarte geschenkt und war dann nicht gekommen?
Ich muss hier weg,
denkt sie verzweifelt. Aber sie fühlt sich zu schwach, um zu gehen. Bis zum Parkplatz in der Schießgasse, auf dem ihr Wagen steht, sind es einige hundert Meter. Sie hat das Gefühl, nicht einen Schritt zu schaffen.
»Anja?«, hört sie plötzlich ihren Namen.
Sie blickt auf, wischt sich verlegen den Mund ab. Ihr bester Freund steht vor ihr. Fast hätte sie ihn nicht erkannt unter dem dicken Wollschal. Seine Nase und die Pausbacken unter der Brille sind rot von der Kälte. »Anja, ist alles in Ordnung?« Die Sorge steht ihm ins Gesicht geschrieben. »Du siehst ja aus wie der Tod.«
Der Tod. Das Blut. Überall Blut.
»Henning!« Erleichtert fällt sie in seine Arme, ruht sich einen Moment bei ihm aus. »Was machst du denn hier?«
»Ich war auf dem Striezelmarkt.«
»Bitte, Henning, bring mich nach Hause.«
Ihr bester, ihr einziger Freund drückt ihr eine Tasse Kamillentee in die Hand. Auf der Couch hat sie sich die Decke bis unter das Kinn gezogen.
»Die alte Geschichte?«, fragt Henning vorsichtig.
»Ich dachte, ich bin darüber hinweg«, lügt sie ihn an. Sie weiß nicht einmal, warum sie das tut.
»Vor Monaten hast du deine Therapie abgebrochen. Du weißt selbst, dass das ein großer
Weitere Kostenlose Bücher