Maria, Mord und Mandelplätzchen
schönsten Ballette der Welt. Der einfühlsam getanzte Traum von der ewigen Liebe, die sanfte Anmut der stolzen weißen Geschöpfe, die sich als eines der wenigen Lebewesen dieser Welt ein Leben lang treu sind. Sie drückt die Rose an sich. Er wird dort sein. Sie spürt es.
Sie erwacht in völliger Dunkelheit. Nur mühsam kommt sie zu sich, ihr Kopf hämmert unbarmherzig. Sie hört ein Stöhnen und lauscht, bis ihr bewusst wird, dass es ihr eigenes Stöhnen war. Es ist eisig kalt. Abgestandene Luft umgibt sie, es riecht nach Nässe und Fäulnis. Sie liegt auf hartem, blankem Boden. Mühsam versucht sie, sich aufzurichten, aber ihre Glieder gehorchen ihr nicht. Sie kann sich nicht bewegen.
Bin ich gelähmt?
Panik steigt in ihr auf.
Wo bin ich? Was ist passiert?
Sie versucht, sich an die Zeit vor ihrem Blackout zu erinnern, denkt an die strahlend erleuchtete Semperoper, auf deren Vorplatz sich elegant gekleidete Menschen unterhielten, an die wirbelnden Schneeflocken im Schein der Gaslaternen, an das Lachen der Besucher. Ganz allein hatte sie dort gestanden und auf ihn gewartet, aufgeregt und mit klopfendem Herzen. Zuerst hatte sie nach dem Vorfall in der Frauenkirche befürchtet, nicht die Kraft zu finden, das Ballett zu besuchen. Aber die Tabletten hatten ihr bald diese Sorge genommen. Sie hatte ihr bestes Kleid angezogen, ihren langen schwarzen Mantel, hatte Lippenstift und Rouge aufgelegt und war zu ihrer Verabredung gefahren.
Wieder hatte sie vergeblich auf ihn gewartet, hatte zitternd im Schneegestöber gestanden, bis alle Gäste in der Oper verschwunden, bis die Stufen vor dem Eingang leer gewesen waren. Erst als der erste Akt längst begonnen hatte, war sie weinend zurück zur Tiefgarage gelaufen, die Konzertkarte zerknüllt in ihrer Hand. Sie erinnert sich an die weiße Schwanenfeder, die an ihrem Scheibenwischer gesteckt hatte. Sie weiß noch, dass sie nach ihr greifen wollte. Danach weiß sie nichts mehr.
Ein Lichtdreieck schiebt sich in den Raum, in dem sie liegt. Eine dunkle Gestalt steht im Türrahmen. Schemenhaft, stumm, abwartend. Leise Weihnachtsmusik dringt hinter der Gestalt durch die Tür. Der Tannennadelgeruch von Räucherkerzchen überlagert den muffigen Gestank der Fäulnis.
Sie spürt die Gefahr, die von dieser Gestalt ausgeht. Sie muss fort! Erneut versucht sie, sich zu bewegen. Ihre Gliedmaßen gehorchen ihr nicht. In diesem Moment wird ihr klar, dass sie gefesselt ist.
Die Gestalt tritt näher. »Schön, dass du endlich wach bist.«
Der Schreck ist gewaltig.
Henning?
Er spricht unablässig weiter. »Heute feiern wir den Heiligen Abend zusammen. Nur wir zwei. Weißt du, wo du bist?« Er kichert. »Entschuldige, es ist ja viel zu dunkel.« Henning geht zur Tür hinaus und kommt mit einer flackernden Kerze zurück. »Wir haben leider keinen Strom, aber so müsste es gehen. Sieh dich um! Erkennst du dieses Zimmer?«
Ein Blick genügt, und die Hölle bricht über sie ein.
Blut über Blut. Auf dem Boden, an den Wänden. Die kleine Hand ihres Bruders, der um Hilfe fleht.
Ihr Atem sackt ab. Kalte Angst kriecht ihr den Rücken hinauf. Sie hat das Gefühl, gleich den Verstand zu verlieren. Hier ist es passiert! Er hat sie in ihr altes Kinderzimmer gebracht. In das Zimmer, in dem vor zwanzig Jahren ihr Bruder vor ihren Augen verblutete. Die Tapete hängt abgefetzt an den Wänden. Das Linoleum ist teilweise herausgerissen. Aufgequollene Holzdielen kommen darunter zum Vorschein. Das alte Kinderbett ihres Bruders ist das einzig verbliebene Möbelstück im Raum. Alles wirkt trist und verlassen. Tot.
»Hier ist er gestorben, nicht wahr?« Er dreht sich um seine eigene Achse, atmet tief ein. »Es riecht nach Blut und nach Tod!« Er geht in die Knie und zeigt auf die dunklen Flecken am Boden. »Man sieht im Holz noch die Blutflecken deines Bruders. Das Haus stand seitdem leer, niemand wollte mehr hier wohnen. Es war nicht schwer zu finden.«
Sie begreift überhaupt nichts.
Warum hat Henning sie betäubt und hierhergebracht?
»Warum?«, flüstert sie nun.
»Du willst wissen, warum wir hier sind?« Sein Lachen macht ihr Angst. Er hockt sich neben sie und betrachtet sie stumm. Jetzt erkennt sie auch das Weihnachtslied, das gedämpft aus dem Nebenraum zu ihnen dringt. »Leise rieselt der Schnee, still und starr ruht der See …«, singt eine zarte Kinderstimme. Ihr wird übel. Die Erinnerungen an den letzten Weihnachtsabend in diesem Haus stürmen auf sie ein, an den Abend, bevor das Schreckliche
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