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Maria, Mord und Mandelplätzchen

Maria, Mord und Mandelplätzchen

Titel: Maria, Mord und Mandelplätzchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Stöger
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geschah. An den Abend, als ihre Welt noch in Ordnung war. »Bring mich hier weg!«, bettelt sie.
    Er überhört ihre Bitte. »Warum hast du mich nie gefragt, warum meine Eltern verbrannt sind?«, will er stattdessen wissen, und sie sieht etwas in seinen Augen hinter den Brillengläsern, das sie zum Schweigen bringt. »Es ging immer nur um dich, um
deine
schlimmen Erinnerungen, um
deine
Panikattacken, um
deine
posttraumatische Belastungsstörung. Hast du mich je gefragt, was in der Brandnacht passiert ist, als ich meine Eltern verloren habe?«
    Sie schnappt nach Luft, will sich rechtfertigen, sich entschuldigen, aber er schneidet ihr mit einer abrupten Handbewegung das Wort ab.
    »Ich habe alles für dich getan, Anja. Alles! Ich war die letzten fünfzehn Jahre immer zur Stelle, wenn du Hilfe brauchtest. Und was hast
du
für mich getan?« Er hat seine Stimme gehoben, sie bebt wütend. »Ich habe dich geliebt, und was machst du? Du wirfst dich dem Erstbesten an den Hals, der dir heimlich eine Rose ans Auto steckt. Träumst wahrscheinlich schon von Heirat und Kindern. Wie schnell hättest du mich vergessen? Wie schnell?«
    Sie schüttelt den Kopf, versucht in Worte zu fassen, wie wichtig er für sie ist. Dass sie ihn nie vergessen könnte. Aber sie kann nichts sagen, kein Laut kommt aus ihrer Kehle. Henning hatte ihr die Briefe geschrieben? Er war ihr unbekannter Verehrer?
    »Du hast mich verraten! Du bist genau so falsch und verlogen wie all die anderen aus dem Heim.«
    »Henning … bitte …«
    »Ich habe meine Eltern getötet!«, sagt er, und ein diabolisches Grinsen zerschneidet sein Gesicht. »Hättest du nicht gedacht, oder?«
    Das ungute Gefühl in ihrem Magen wird zu einem Stechen. Was passiert hier mit ihr?
    »Nur ich wurde gerettet, der arme zwölfjährige Vollwaise. Der kleine dicke Brillenträger. Keiner weiß, dass ich das Feuer gelegt habe, als meine Eltern schliefen.« Ganz nah ist er ihr jetzt, sieht ihr tief in die Augen. Und er sieht die Angst, die darin glimmt. »Sie sind bei lebendigem Leibe verbrannt, weil ich ihre Tür blockiert hatte.« Er lächelt und sieht sie aufmerksam an.
    »Nein Henning«, flüstert sie mühsam. »Du bist kein Mörder!«
    »Der Tod ist ein Geschenk, Anja. Er ist so gewaltig, so endgültig. Es ist
unglaublich …
« Er ballt seine Hände zu Fäusten. »… das Gefühl, Herr über Leben und Tod zu sein! Erinnerst du dich an den dünnen Mario aus dem Heim, von dem alle dachten, er sei ausgerissen? Nur ich weiß, wo seine Leiche ist.«
    »Nein …«, flüstert sie. Eine Träne läuft über ihre Wange.
    »Du hattest all die Jahre Angst vor deiner Vergangenheit. Du hattest Alpträume von einer Nacht, von der nur ein altes verrottetes Haus übrig geblieben ist.« Henning sieht sie lange an. »Dabei hättest du Angst
vor mir
haben sollen.« Zärtlich streicht er ihr die Träne von der Wange. Dann nimmt er die Kerze und geht hinaus. Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss.
    Sie ruft ihn zurück, schreit so laut sie kann seinen Namen, schreit in ihrer Todesangst, während sie das Prasseln des Feuers vor der Zimmertür hört. Der Schnee vor dem Fenster rieselt leise vor sich hin.
     
    »Sie ist wach!«, ruft jemand. »Sie kommt zu sich!«
    Einen Moment lang kann sie nur verschleierte Umrisse erkennen. Sie blinzelt, bis ihr Blick klar wird. Ein junger Arzt beugt sich über sie. »Frau Walter, können Sie mich hören?« Er leuchtet ihr mit einer kleinen Lampe in die Augen.
    Sie hustet, fixiert dann ihre Umgebung. Weiße Wände, weiße Türen, medizinische Gerätschaften auf einem Schrank. Sie muss in einem Krankenhaus sein. »Was …«
    »Keine Angst, Sie sind in Sicherheit. Ihr Freund hat Sie hierhergebracht. Er hat Sie aus dem brennenden Haus gerettet. Ohne ihn wären Sie jetzt wahrscheinlich nicht mehr am Leben!«
    »Mein Freund?«, flüstert sie.
    Der Arzt winkt jemanden heran. »Kommen Sie mal zu uns.«
    Henning beugt sich über sie. Er sieht furchtbar aus. Spuren von Tränen durchschneiden den Ruß auf seinen Wangen. Weiße Bahnen im schwarzverschmierten Gesicht. »Anja«, flüstert er. »Es tut mir so leid! Das wollte ich nicht.«
    Stocksteif liegt sie da, starrt ihn ungläubig an.
    »Ich wollte dir nichts zuleide tun, bitte glaub mir!« Er gestikuliert mit seinen dicken Fingern. »Es war alles gelogen, was ich dir erzählte. Ich wollte, dass du endlich dein Trauma verarbeitest. Ich habe so viel darüber gelesen, um dir helfen zu können. Es gibt da diesen Arzt im Internet.

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