Maria, Mord und Mandelplätzchen
gleiten ließ. »Der Erwin!«, rief sie. »Nach so vielen Jahren! Wie lange wir uns schon kennen, wir vier, nicht wahr? Ich weiß noch, damals im Schützenverein, dein Erwin und mein Friedrich … Was haben wir gelacht, wir vier, damals!«
Und sie begann zu singen, etwas wackelig und nicht besonders schön.
»Es waaar in Kööönigswinter, nicht davooor und niiicht dahinter!«
Erna sah Hedwigs Augen feucht werden und wusste: Es war Zeit, zur Sache zu kommen.
»… es war gleich mittendrin …«
»Hast du dich nicht gefragt, warum der Sarg bei der Beerdigung geschlossen war?«, unterbrach Erna abrupt Hedwigs Gesang.
Hedwigs Mund klappte zu. »Bitte was?«
»Erwins Beerdigung. Der Sarg war geschlossen. Hast du dich nicht nach dem Grund gefragt?«
»Bitte wonach?«
»Der. Sarg. War. Zu«, wiederholte Erna. Sie betonte jede Silbe.
»Und warum?« Hedwig stellte ihre Tasse so hastig ab, dass der köstliche neue Tee überschwappte.
Erna sah zu, wie Hedwig nach der dunkelgrünen Papierserviette griff und hastig die Untertasse abtupfte. Dann sagte sie: »Ich habe Erwin obduzieren lassen.«
Es klirrte laut, als Hedwig ihren Teelöffel auf die Untertasse fallen ließ.
»Obduzieren? Heißt das, du denkst tatsächlich, jemand habe deinen Erwin …« Hedwig lachte laut. Vielleicht eine Spur zu laut?
»O ja, das dachte ich«, antwortete Erna würdevoll. Sie ließ ein weiteres Stück Kandis in die Tasse gleiten, nahm den zierlichen silbernen Löffel und rührte bedächtig, dann nippte sie. Etwas zu süß. Es war chinesischer Tee, der in Verbindung mit dem Apfel- und Marzipanaroma bereits genug Süße mitbrachte. Für die nächste Tasse würde sie nur einen einzigen Kandiskrümel nehmen, damit der Zucker den Geschmack nicht erdrückte.
Hedwig stellte hastig die Tasse ab. »Und warum?«
»Weißt du, mir kam so einiges an seinem Tod merkwürdig vor.«
»Oh«, sagte Hedwig. Mehr sagte sie nicht. Sie nahm sich ein Stück Kandis mit der Zuckerzange aus der Zuckerdose und ließ es in ihre Tasse plumpsen.
»Leider haben sie nichts gefunden. Es war offenbar wirklich ein Herzinfarkt. Die Polizei meint, in dem Alter stirbt man schnell an einem Herzinfarkt. Unter uns, Hedwig, ich glaube fast, sie hielten mich für eine alte Schachtel, die Gespenster sieht.«
»Hm«, machte Hedwig. Es war ein »Hm«, das viel Raum für Interpretationen ließ.
»Dabei habe ich schon einige wichtige Hinweise entdeckt … Aber lassen wir das«, sagte Erna. »Soll ich dir erzählen, wie er gestorben ist?«
Hedwig brummte zustimmend.
»An diesem Abend ging ich um acht ins Bett«, begann Erna. »So wie jeden Abend. Erwin ging erst später, er mochte die Nachrichten sehen oder eine Sendung, die ihn interessierte. Wenn er ins Bett ging, schlief ich schon. Außerdem haben wir getrennte Zimmer, weil ich«, sie hüstelte, »ein wenig schnarche.«
Hedwig rührte sich nicht. Sie saß kerzengerade, die Tasse Tee in der Hand.
»Trink!«, sagte Erna.
»Bitte?«
»Trink! Sonst wird er kalt, der gute Tee!«
Hedwig trank.
»In der Nacht von Erwins Tod war es anders«, fuhr Erna fort, »zwar ging ich um acht zu Bett, wie sonst auch. Ich erwachte aber nicht um sieben Uhr früh, wie gewöhnlich, sondern davon, dass die Polizei Sturm klingelte.«
»Die Polizei?« Hedwig beugte sich vor und zwinkerte vor Aufregung.
»Die Polizei. Passanten hatten Erwin vor unserer Haustür liegen sehen – tot!«
»Entsetzlich«, sagte Hedwig und wischte sich mit ihrem Taschentuch eine Träne aus dem Augenwinkel. »Ich werde ihn sehr vermissen.«
»Das glaube ich«, erwiderte Erna mit sonderbarer Betonung. »Die Polizei und auch die Ärzte im Krankenhaus sagten, es sei ein natürlicher Tod gewesen. Offenbar war Erwin noch einmal vor die Tür gegangen und hatte dann einen Herzinfarkt erlitten. Vielleicht hat er sich aufgeregt, meinen sie.«
»Na also«, sagte Hedwig. »So etwas kommt vor.«
»Man regt sich nicht einfach so sehr auf, dass man einen Herzinfarkt bekommt!«, widersprach Erna. »So etwas tut man nur, solange man jung ist. Dann regt man sich auf über die Regierung und die hohen Steuern, über den geplanten Rathausneubau oder freche Nachbarskinder. In unserem Alter regen diese Dinge einen nicht auf, sie unterhalten uns höchstens.«
»Pft!«, machte Hedwig.
»Ich frage mich also zweierlei«, sagte Erna. »Erstens: Was hat Erwin um diese Zeit draußen gemacht? Und zweitens: Was hat ihn so aufgeregt?«
»Möglicherweise hat ihn ein Hund auf seinem
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