Maria, Mord und Mandelplätzchen
einer der alten Holzbänke im Hauptschiff, das den Damen Platz bot. Stefan lehnte sich, erschöpft von Kartoffelsalat, Alkohol und der ihn umgebenden barocken Pracht, an eine der breiten Säulen. Auf der Empore begann das Orchester zu spielen, der Chor sang, und als endlich der Priester in vollem Ornat, umgeben von unzähligen Messdienern, erschien, befand sich Stefan schon in einer Art Wachkoma. Gefühlte Stunden später, als die Lichter ausgingen, als die Orgel »Stille Nacht« dröhnte und tausend Kehlen inbrünstig »Heilige Nacht« zurückschmetterten, kam er wieder zu sich. Er sah Tränen in Gundulas Augen schimmern. Sie umklammerte Elkes Hand ganz fest. Und dann war es endlich vorbei.
Sie hatten ihn untergehakt, auf beiden Seiten. Die Wärme ihrer Körper und das Gefühl, das Schlimmste überstanden zu haben, taten Stefan gut, und er schritt forsch aus. Erst als sie in die falsche Richtung abbogen, stockte sein Schritt. »Wo wollt ihr hin?«
»Bevor wir nach Hause gehen, müssen wir zum Rhein«, erklärte Gundula.
»So machen wir das immer«, sagte Elke. »Wir wünschen Papa frohe Weihnachten!« Ohne seine Antwort abzuwarten, zerrten sie ihn in Richtung Hofgarten. Das Schloss lag dunkel und verlassen, keine Spur von Weihnachtszauber. Stefan fröstelte. Er verspürte das dringende Bedürfnis nach einem Häppchen Kaviar, hinuntergespült mit einem Schluck Champagner. Und zwar vor einem warmen Kaminfeuer.
»Du bist doch nicht zu müde, mein Lieber?« Elkes Stimme klang überraschend anzüglich, jedenfalls anzüglich genug, um Stefans Kräfte zu beleben.
Die Äste der alten Bäume neigten sich bedrohlich unter ihrer Schneelast. Unheimliche Schatten geisterten über den Fußweg, und als sie den alten Zoll erreichten, pfiff ihnen vom Rhein ein feindseliger Wind entgegen. Die Stufen der Treppe waren unter den Schneeverwehungen nur noch zu ahnen. Auch auf der Promenade unten türmte sich kaltes Weiß. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, und die Lichter, die warm und heimelig von der anderen Rheinseite durch das Schneetreiben leuchteten, wirkten Lichtjahre entfernt.
Sie traten ans Geländer. Das Wasser rauschte und gurgelte.
»Mein Vater war ein guter Mensch«, sagte Elke. »Er fehlt mir jeden Tag.«
»Ja, er war ganz bestimmt etwas Besonderes«, sagte Stefan, bereit, sich kooperativ zu zeigen, um diese Sache so kurz wie möglich zu halten. »Es ist ganz furchtbar, dass er heute nicht bei uns sein kann. Bestimmt würde er nicht wollen, dass sich irgendwer eine schreckliche Erkältung holt. Ist euch eigentlich auch so kalt wie mir?«
»Das Wasser war kalt«, sagte Gundula. »Damals, als es passiert ist.«
Stefan entfuhr ein kurzes Stöhnen.
»Das interessiert Stefan nicht besonders«, sagte Elke. »Stefan interessiert eigentlich ohnehin nicht so viel. Außer Stefan.«
Was sollte das denn jetzt? Es gab keinen Anlass, zickig zu werden, fand Stefan. Er war schließlich nicht derjenige, der sich hier wunderlich aufführte.
»Stefan weiß nicht mehr, wie kalt das Wasser war«, sagte Gundula nun. »Stefan kann sich ja nicht erinnern. Trauma, weißt du. Es war Hochwasser, die Strömung war stark.« Sie klang melodramatisch. »Genau wie jetzt!« Fast wie der Pfaffe, als er die Weihnachtsgeschichte vorgelesen hatte, dachte Stefan, dem nicht ganz klar war, worauf die beiden jetzt eigentlich hinauswollten. Aber es war ihm auch egal. Er hoffte nur, dass sie ihr merkwürdiges Ritual bald abgeschlossen hatten und sie endlich nach Hause konnten. Er spürte seine Zehen kaum noch. »Ertrinken ist ein grauenhafter Tod.« Der Wind riss Elke die Worte von den Lippen.
»Erfrieren ist auch nicht schön«, bemerkte Stefan.
Elke lachte. Jedenfalls vermutete Stefan, dass es ein Lachen sein sollte. Langsam wurde ihm die Sache ein bisschen unheimlich.
»Ihm ist kalt, Mutter«, sagte Elke. »Stefan kann sich jetzt nicht damit auseinandersetzen, dass Vater gestorben ist. Er friert.«
Der Sarkasmus in ihrer Stimme gefiel Stefan ganz und gar nicht. »Hör mal«, sagte er. »Ich weiß, wie das ist! Ich bin schließlich auch mal fast ertrunken!«
»Du weißt eben nicht, wie das ist«, widersprach Gundula. »Denn du bist ja nicht ertrunken!«
»Aber fast!«, brüllte Stefan, der sich auf merkwürdige Art angegriffen fühlte. Und wie sie seinen Arm umklammerte. Was sollte der ganze Mist denn?
»Du bist nicht ertrunken, weil mein Vater ins Wasser gesprungen ist. Er hat gedacht, er tut das Richtige. Dabei hast du das
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