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Maria, Mord und Mandelplätzchen

Maria, Mord und Mandelplätzchen

Titel: Maria, Mord und Mandelplätzchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Stöger
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Bärtchen und Stirnglatze. Ein Ausländer. Bestimmt. Am Ende sprach hier gar keiner Deutsch. In diesem Moment wurde sie von einer hellen Frauenstimme von hinten angesprochen. »Sie haben da etwas verloren!« Erleichtert, eine freundliche Stimme zu hören, wandte sich Herta Göbel um. Sie blickte in das lächelnde Gesicht einer sehr jungen Frau mit schönen dunklen Augen und einem rot geschminkten Mund. Herta Göbels Gesichtszüge verhärteten sich. Die Frau trug ein Kopftuch, unter dem ein schwarzes, breites Stirnband den Haaransatz verdeckte, und einen langen Mantel. »Ich habe nichts verloren!«, sagte Herta Göbel entschieden. Die junge Frau lächelte. »Doch«, antwortete sie.
    Herta Göbel kannte das aus dem Fernsehen. Es war ein Trick, jemanden anzusprechen und aufzuhalten, um ihm dann das Geld aus der Tasche zu ziehen. Die junge Frau bückte sich und hob einen feinen grauen Wollschal auf. Herta Göbel grapschte danach und warf ihn sich schnell wieder um den Hals. Sie musste ihn verloren haben, als sie beim Betreten der Bank den Mantel geöffnet hatte. Es war eine Vorbereitung gewesen, um nachher das Geld schnell im Brustbeutel verstauen zu können. »Bitte schön«, sagte die junge Frau betont höflich.
    Dann griff sie nach der Hand eines etwa vierjährigen Jungen mit sorgfältig gescheiteltem dunklen Haar, der neben einem Kinderwagen stand.
    So jung und schon zwei Kinder,
entrüstete sich Herta Göbel in Gedanken. Uwe und Inga hatten keine Kinder. Aufgewachsen in der Wirtschaftswunderzeit hatten die immer nur Geld und Karriere im Kopf gehabt. Und als sie dann wollten, war es zu spät.
Andererseits, was hätte ich denn von Enkeln gehabt?,
überlegte Herta Göbel weiter.
Der Unterschied wäre, dass ich heute noch mehr Geld abheben müsste, um sie alle zufriedenzustellen. Kinder sind heute nicht mehr so wie früher. Und um ihre Oma würden sie sich schon gar nicht kümmern!
Energisch ging sie in Richtung Schalterhalle.
     
    Der Himmel hatte sich zugezogen, und draußen tanzten wilde Flocken. Herta Göbel schüttelte im Flur ihrer Wohnung den Schnee aus dem Pelzmantel und hängte ihn sorgfältig an der Garderobe auf. Am Küchentisch entledigte sie sich ihres Brustbeutels und breitete die Scheine in einem der Schubfächer aus. Sie waren glatt und unverbraucht. Sie beschriftete zwei goldverzierte Briefumschläge.
Für meinen geliebten Sohn Uwe,
schrieb sie auf den einen.
Für meine
 …, sie zögerte und erklärte ihrem unsichtbaren Gesprächspartner: »Inga ist oberflächlich und genusssüchtig!«
 … stets heitere Schwiegertochter Inga,
vollendete sie mit zitteriger Schrift. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk. Dann drängte sich ein anderer Gedanke in den Vordergrund. Da war doch noch etwas! Etwas, woran sie sich gleich nach ihrem Eintreffen erinnern wollte. Sie grübelte angestrengt. Es hatte mit dem Vorratsschrank zu tun. Natürlich! Das Weihnachtsessen! Würstchen mit Kartoffelsalat hatte sie entschieden. Sie sollte sich jetzt daranmachen, die Kartoffeln zu schälen, damit der Salat noch gut durchziehen konnte. Mit zügigen Schritten verließ sie die Küche in Richtung des Vorratsschranks, der sich in der Diele neben der Garderobe befand. Ihre Hand griff nach dem Lichtschalter, doch sie zuckte zurück. Es war ja erst Mittag und noch viel zu früh, selbst wenn es im Flur duster war. Strom kostet Geld, ermahnte sie sich. Plötzlich trat sie auf etwas Weiches. Noch bevor sie nachdenken konnte, was das war, riss es ihr auf dem schneenassen Dielenboden das Bein unter dem Körper weg. Halt suchend riss sie den Pelzmantel mit hinab. Ein stechender Schmerz jagte durch ihr Bein bis hoch in den Unterleib und ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Etwas Feuchtes rann von einer Augenbraue hinab über die Nasenwurzel. Um sie herum schien sich alles zu drehen. Was war schlimmer? Die Verletzung am Kopf oder das Bein? Als sie versuchte, ihren Körper ein klein wenig zu bewegen, war die Frage beantwortet. Der Schmerz im Oberschenkel meldete sich so heftig, dass es ihr den Atem nahm. Vielleicht war sie sogar für kurze Zeit ohnmächtig geworden. Jedenfalls schien es im Flur noch dunkler zu werden, als ihr allmählich bewusst wurde, dass sie verletzt und bewegungsunfähig in ihrer Wohnung lag. Schlimmer noch, niemand würde in den nächsten zwei Wochen dieses Haus betreten. Niemand würde sie vermissen und nach ihr sehen. »Die ist in Südafrika«, würde Frau Werneckes Tochter angesichts des überquellenden Briefkastens denken.

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