Maria, Mord und Mandelplätzchen
Menschenseele, dachte sie etwas beklommen und nahm das Bild der einsam verschneiten Welt in sich auf. Niemand hätte ahnen können, dass sich dieser Anblick mitten in Offenbach bot, einer Stadt, die verwachsen mit der Nachbarstadt Frankfurt zum pulsierenden Herzen des Rhein-Main-Gebietes gehörte. Die Einflugschneise führte über ihr Haus. Das bedeutete Lärm im Minutentakt und dass die Wohnungen im Haus nicht leicht zu vermieten waren. Vielleicht war das der Grund, warum ihr Sohn sie noch hier wohnen ließ und sie nicht schon längst in einem Altersheim untergebracht hatte. Sie blickte nach oben. Eine Maschine lärmte am Himmel und erschien hin und wieder als dunkler Schatten zwischen den Wolken. Das sonore Brummen hatte sie in Aufregung versetzt. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals.
So lange ist das her, dachte sie, aber der Körper vergisst nicht. Ihre Augen tränten vom Blinzeln. Sie senkte den Blick. Die Motoren waren in der Ferne verklungen, und sie entspannte sich wieder. Der wattige Schnee dämpfte alle Geräusche. Für einen Moment zauberte er eine große, zeitlose Stille hervor. Sie stand ganz ruhig und andächtig. Dann drangen von weit her Kinderstimmen an ihr Ohr. Vielleicht bauten sie in einem entfernten Garten einen Schneemann? Taten Kinder das heute überhaupt noch? Sie wusste nicht, was Kinder heutzutage taten, wollte es gar nicht wissen. Es genügte schon, deren Geschrei und Getrampel ertragen zu müssen, wenn die Familie im ersten Stock zu Hause war. Früher war das anders gewesen. Da hatten die Eltern noch darauf geachtet, dass ihre Kinder die Mittagsruhe einhielten. Zum Glück war die Familie seit gestern im Winterurlaub. Für Herta Göbel hatte der Schnee schon lange den Zauber verloren, den er in ihrer Kindheit gehabt hatte. Schnee war das kalte Leichentuch, das ihren Verlobten eingehüllt hatte, im letzten Kriegswinter in Russland. Und sie saß in Offenbach, mit dem Kind. Eine harte Zeit. »Trotzdem haben wir auch im Krieg Weihnachten gefeiert«, erklärte sie einem imaginären Gesprächspartner. »Es gab nicht viel, aber Hauptsache, wir waren beisammen. Einer war für den anderen da, das zählte. Und heute? Was zählt heute?«
Eine Bewegung im Augenwinkel weckte ihre Aufmerksamkeit. Eine schwarzgefiederte Amsel landete zielgenau auf dem First des Vogelhäuschens und äugte in Richtung der Menschenfrau. So ganz sicher schien sie sich nicht, ob diese eine Gefahr darstellte. Herta Göbel raschelte mit der Futtertüte. Jetzt erinnerte sie sich wieder, warum sie an diesem eisigen Morgen nach draußen gegangen war. »Es ist doch Weihnachten«, redete sie mit der Amsel. »Ihr sollt auch etwas haben.« Als die alte Frau näher kam, flog die Amsel davon und beobachtete das Einfüllen der Körner aus sicherer Entfernung. »Es liegt so viel Schnee, ihr findet ja gar nichts mehr«, sprach Herta Göbel weiter vor sich hin. »Ich werde noch Meisenknödel aufhängen!« Vorsichtig trippelte sie zurück in ihre Wohnung. Als sie sich am Vorratsschrank zu schaffen machte, wurde sie vom Läuten an der Wohnungstür unterbrochen.
Es war Frau Wernecke aus dem zweiten Stock. Frohe Weihnachten wollte sie wünschen und sich verabschieden. Ihr Mann und sie würden jetzt gleich in den Urlaub fliegen. In die Sonne. Herta Göbel konnte sich viel vorstellen, aber ein Weihnachten unter Palmen nicht. Vorgestern hatte sich Herta Göbels Sohn ebenfalls verabschiedet. Er war seit Sommer in Rente. Jetzt hatten er und seine Frau sich Südafrika zu Weihnachten geschenkt, wie er das ausdrückte. »Und Sie?«, fragte Frau Wernecke. »Bleiben Sie denn allein? Das ganze Haus ist leer!« In ihrer Stimme und in ihrem Blick lag jener falsche Ausdruck des Bedauerns, den Herta Göbel nicht ausstehen konnte. Sie wollte nicht bemitleidet werden, schon gar nicht von der Wernecke. Mein Leben lang bin ich alleine zurechtgekommen, resümierte sie in Gedanken. Das war gar nicht anders gegangen. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.
»Ich bin nicht allein«, sagte sie entschieden. »Übermorgen werde ich mit meinem Sohn und seiner Frau nach Südafrika fliegen. Das haben sie mir zum Geburtstag geschenkt.«
Diese Antwort saß und machte Frau Wernecke für einen Moment sprachlos. Ihr Gesichtsausdruck war eine Mischung aus völligem Erstaunen und tiefer Bewunderung. »Ach so«, hauchte sie. »Ich wollte Ihnen anbieten, dass meine Tochter ab und an nach Ihnen schaut, wenn sie oben die Blumen gießt.«
»Nicht nötig«, versicherte Herta
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