Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
Nachfolgerin, Miriam Bechow aus Dresden. Und wenn Sie ein kleines Gehalt brauchen sollten, melden Sie sich bei mir, in Ordnung?«
Als Miriam aus dem alten Gebäude ins Freie tritt, glaubt sie die Krähe mit Joes Tante um die Wette lachen zu hören. Mehr als unheimlich ist ihr diese Frau, die Miriam direkt in ihr wundes Herz gesehen hat. »Shambala« hatte sie zum Abschied gemurmelt und dabei so wissend gelächelt, als könnte sie in Miriams geheimen Welten lesen wie in einem offenen Buch.
Auf dem Weg ins Tal saust erneut ein Schlitten mit Gejohle an Miriam vorbei, und kurz darauf scheucht eine Gruppe fröhlicher Skifahrer sie zur Seite. Miriam rettet sich an den Wegrand, wo ihr der Schnee besseren Halt gibt. Bergab zu gehen ist unangenehm, und mehr als einmal stürzt sie fast, sodass sie bei erster Gelegenheit in einen Wanderweg abbiegt. Der Pfad ist herrlich ruhig, und weiter unter sich sieht sie bereits die Spitze des Kirchturms über die Wipfel der Bäume ragen. Gut gelaunt geht sie weiter. Immerhin ist es ihr gelungen, heute die ersten Schritte in Richtung einer möglichen neuen Existenz zu gehen.
Der Cowboy ist dabei, die große Schneeraupe zu betanken, die Stadlers sich seit Jahren mit den Nachbarn zur Linken teilen, deren Hof einen halben Kilometer weiter westlich liegt. Es ist später Nachmittag, und am Samstag sind die Stadlers an der Reihe mit dem Räumen der oberen Bergstraße. Die Fichten werfen bereits lange Schatten über das Tal, und unter den Bäumen, wo die wärmenden Strahlen der Sonne nicht hingelangen, bilden sich kleine Eiskristalle. Vom Rand der Tränke für die Pferde bricht Bene eine Kette kleiner Eiszapfen, die klirrend zu Boden fallen. Er ist nervös. Seine Tante ist seit vielen Stunden fort. Der Cowboy nickt dem Jungen zu.
»Miriam war beim Pfarrer und dann bei meiner Tante oben am Berg im Altenheim. Wo sie danach hin is, des woaß niemand, aber Sorgen brauchst du dir keine machen, denn hier bei uns geht niemand so schnell verloren. Magst mitkommen, die obere Bergstraße räumen?«
Das lässt Bene sich nicht zweimal sagen. Im Nu hat er sich neben Joe ins Führerhäuschen geschwungen. Der Motor knattert los, und kurz darauf rollt der Schneepflug vom Stadlerhof in Richtung Berge.
ZWÖLFTES KAPITEL
DUMMES KAMEL
Neben einer hölzernen Futterkrippe für Rehe steht eine Bank für Wanderer unter den weit ausladenden Ästen einer einsamen Riesentanne. Hier hat Miriam vorübergehend Schutz gesucht, weil unter dem Nadelbaum nicht ganz so viel nasser Schnee fällt, der in jede Ritze ihrer Kleidung dringt. Sie hat hier ein provisorisches Lager aufgeschlagen, denn sie muss sich ausruhen, obwohl es eigentlich zu kalt zum Sitzen ist. Aber die Kleine drängt seit geraumer Weise nach unten und scheint nichts dabei zu finden, Miriam das Gehen so beschwerlich wie möglich zu machen. Jeder Schritt bedeutet eine Qual, und Miriam muss einfach kurz auf dieser Bank liegen, um ihre Beine auszuruhen. Trotz stundenlangen Umherirrens glaubt sie immer noch, den Weg zum Stadlerhof zurückzufinden. Diese Riesentanne, die alle niedrigeren Fichten um gut zehn Meter überragt, hatte Miriam morgens vom Fenster ihres Zimmers aus bewundert, zumindest glaubt sie, dass es diese Tanne war. Obwohl jetzt alles dichter verschneit ist als am Morgen, ist Miriam sich fast ganz sicher, dass dieser Baum ungefähr einen Kilometer links über dem Hof liegen muss, und zwar in nordöstlicher Richtung. Zugegeben, es ist hauptsächlich Wunschdenken, aber Miriam wünscht es sich eben, weil es gar keine gute Vorstellung wäre, wenn sie sich wirklich hier in den Bergen verlaufen hätte. Die Dämmerung setzt bereits ein. Nur war Miriams Orientierungssinn leider immer schon die reinste Katastrophe, in ihrer Beziehung mit dem Mathematiklehrer ein beliebtes Dauerthema. Mühselig hatte sie ihm zuliebe gelernt, mit Himmelsrichtungen umzugehen, um nicht bei jeder Gelegenheit als Dummerchen tituliert zu werden, aber insgeheim hatte sie seine Besessenheit verachtet. Sie fand es erbärmlich, wie er den Alltag mit all seinen wunderbaren Unberechenbarkeiten in ein Koordinatensystem der Orientierung stecken musste, um sich wohlzufühlen. Eine nach Vivaldi benannte Straße ließ in seinem Kopf keine Geigen erklingen, sondern musste effizient geortet werden, gerne mittels des neuesten Navigationssystems. An den Komponisten Vivaldi wurde kein Gedanke verschwendet. Was für ein Fehlgriff dieser Mann gewesen war!
Miriam drückt ihren Umschlag wegen der
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