Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
verschiedene Arten von Engeln. I hab von dene g’sprocha, die wie kloane Kinder ausschauen, und du hast die echten Engel g’moant! Bei denen gibt’s natürlich an Mo und a Weibsbild und in deinem Fall die Mama und den Papa. Des war echt deppert von mir!«
Aus Anna-Sophies Augen rollen immer noch Tränen, aber das Schluchzen hat nachgelassen. Und kurz darauf, als Hilla anbietet, Anna-Sophies Lieblingsmärchen vorzulesen, nickt die Kleine bereits zögernd. Mit vorsichtigem Lächeln tritt Hilla zu Anna-Sophie an den Hocker. Ihre Stimme klingt so sanft und so hochdeutsch wie nur irgend möglich, als sie dem Mädchen ihre Arme entgegenstreckt.
»Magst du mal her zu mir kommen, liebe Anna-Sophie?«
Das Mädchen zögert einen Moment lang, aber Hillas Lächeln duftet nach Zimt und Vanille, und die Katze Mimmi schnurrt auf dem Kachelofen neben dem Schaukelstuhl mit dem Märchenbuch. Mit einem Mal tut sich in Anna-Sophie eine Sehnsucht auf, die mindestens so groß ist wie die eine Wolke am Himmel, auf der die echten Engel wohnen. Mit fest geschlossenen Augen lässt Anna-Sophie sich in Hillas warme Arme fallen.
Der ansteigende Weg, der vom Pfarrhaus in Richtung Berge zum Altenheim führt, scheint Miriam endlos und viel zu steil. Sie muss sorgfältig Fuß vor Fuß setzen, um nicht auf dem Glatteis auszurutschen. Die Anstrengung, die sie wegen der Schwangerschaft an ihre körperlichen Grenzen bringt, erinnert sie an den einzigen Marathonlauf, den sie in ihrem Leben mitgemacht hat. In Dresden wollte sie einem Mann imponieren, der jeden Schweißtropfen wert war. Aber obwohl sie Seite an Seite mit ihm den Marathon bis zum bitteren Ende lief, hat es für die große Liebe dann doch nicht gereicht. Dario war ein junger Tenor aus Pisa, der in einem Flugzeugunglück nicht nur seinen Arm, sondern auch seine Singstimme verloren hatte. Gleichaltrig mit Miriam, hatte er sie tief beeindruckt, weil er sein Schicksal so tapfer hinnahm. Durch sein Unglück musste Dario von seinem Vertrag an der Metropolitan Opera in New York zurücktreten und war als Lehrer an Miriams Musikhochschule gelandet. Aber sie hat an ihm nicht die Spur von Selbstmitleid feststellen können, sondern er war im Gegenteil dankbar dafür, überlebt zu haben. In Darios tiefe Menschlichkeit hatte sich Miriam verliebt, es ihm aber nie gestanden, sondern hatte ihm zwei Semester lang als Referendarin zur Seite gestanden, nur um täglich in seiner Nähe sein zu können. Bei zwei Aufführungen durfte Miriam als Johanna von Orléans einspringen, weil eine Schülerin krank geworden war. Dario hatte mit ihr so intensiv gearbeitet, wie kein anderer das je getan hatte, und Miriam hatte durch ihn begonnen, sich sogar eine Schauspielkarriere zuzutrauen. Dario hatte ihr auch beigebracht, wie man mit Würde Nein sagt, notfalls auch zu einem Lehrer, der das Unmögliche verlangt. Eine Zeit lang hatte Miriam täglich geübt, Nein zu sagen, ihrer Mutter, ihrer Schwester, aber vor allem den Männern gegenüber, die ihr Lügen auftischten, um sie ins Bett zu bekommen.
Auf ihrem Weg stolpert Miriam über einen Stein, den sie für einen Schneeball gehalten hatte, und die Mappe mit den Notenblättern, die sie sich nach dem Besuch im Pfarrhaus unter den Arm geklemmt hatte, fällt auf den Weg. Beim Pfarrer hätte sie ihr Nein gerade gut zum Einsatz bringen können, denn er hatte sie auf flinke Spinnenart beim Abschied noch geschickt für seine Zwecke eingespannt. Nicht nur ihr eigenes Lied soll Miriam im Altenheim der Diva vorbeten, sondern das ganze geplante Weihnachtsrepertoire hat er ihr dreist zur Absegnung in die Hand gedrückt. In seinen Augen hatte Miriam die Erleichterung darüber gesehen, der Diva an diesem Tag nicht begegnen zu müssen, denn er hatte etwas von ihrer Krähe gemurmelt, einem unheimlichen Tier von großer Intelligenz, das eine deutliche Abneigung gegen den Pfarrer hegt.
Trotz zunehmender Erschöpfung stapft Miriam tapfer bergauf, jetzt ein wenig breitbeiniger, um nicht erneut die Balance zu verlieren. Miriam beginnt eine Arie aus Wagners Oper Siegfried zu summen, um sich Mut zu machen, und erinnert sich prompt an den Tag, als Dario seine Stimme wiederbekam. Sie hatten im Sommer ein Seminar über Wagner gegeben und kamen von ihrer gemeinsamen Mittagspause, als er sich plötzlich räusperte, wieder und wieder, so als hätte er eine Gräte verschluckt. Dann ging Dario zum Waschbecken und hielt sein Gesicht und schließlich seinen ganzen Kopf unter den Wasserhahn. Als er
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