Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
ihn vom Waschbecken erhob, strahlte er auf eine merkwürdige Art und öffnete den Mund einige Male ganz weit, wie ein Karpfen, der nach Luft schnappt. Danach ging er ohne ein Wort auf die leere Bühne und sang aus dem Stegreif etwas aus Tristan und Isolde . Seine Stimme jubelte dabei, als würde sie geradewegs vom Himmel kommen. Wie neu geboren war jede einzelne Note aus seinem Mund, und sie hat spontan weinen müssen, weil sie sich so für Dario gefreut hatte. Aber mit der Wiedergeburt der Stimme kamen die schönen Frauen, die ihn begehrten. Seine erleuchtete Stimme trug paradiesische Verheißungen für mehrere Frauenleben, und eine Zeit lang war Miriam vor Eifersucht fast vergangen. Dann merkte sie, wie ihre Anwesenheit ihm zur Last wurde, so als würde Miriam ihn an einen Teil seiner selbst erinnern, den er vergessen wollte. Erfolg ist ein gieriges Tier, das oft die schönen Seiten eines Menschen verschlingt. Miriam hatte Dario danach nie wiedersehen wollen, weil sie sich die Enttäuschung ersparen wollte. Aber vielleicht war sie auch zu feige, um ihrem Versagen ins Auge zu sehen, denn sie war schließlich diejenige, die eine Beziehung verhindert hatte.
Einen Augenblick bleibt Miriam stehen, um ihr Gesicht in die Wintersonne zu halten, die durch die Wipfel der hohen Fichten scheint. Die Wärme tut gut, aber mit einem Mal sehnt Miriam den Cowboy herbei. Rein äußerlich hat er wenig Ähnlichkeit mit dem einarmigen Tenor, aber etwas an Joes Wesen erinnert sie an Dario. Auch in diesem bayerischen Taxifahrer lebt eine Ehrlichkeit, die Miriam imponiert und zugleich irgendwie irritiert. So war es damals bei Dario auch, aber Sterbliche sind nun einmal anders. Die meisten schwindeln und lügen sich durchs Leben, von einem Tag zum anderen, so wie Miriam es auch oft getan hat. Jahrelang war sie mit einem Mathematiklehrer zusammen, den sie nicht wirklich lieben, aber auch nicht loslassen konnte. Er war der Spatz in der Hand, weil die einarmigen Tenöre dieser Welt in anderen Sphären leben. Miriam wird immer das Gefühl haben, minderwertig zu sein, und daran würden weder Geld noch die Zuneigung der Kinder etwas ändern. Nur in Shambala ist sie schön und mächtig. Im echten Leben war das, was das Schicksal bisher für Miriam vorgesehen hatte, immer viel zu weit von ihren Träumen entfernt gewesen.
»Aus der Bahn!«
So schnell sie mit ihrer Fülle kann, springt Miriam zur Seite. Ein Schlitten mit zwei jubelnden Jugendlichen in bunter Schneekleidung zischt an ihr vorbei. Ein Stück weiter kippt der Schlitten in der Kurve um. Miriam sieht, dass es zwei junge Liebende sind, die diese Gelegenheit nutzen, um sich lange und ausgiebig zu küssen. Schmerzhaft wird ihr in diesem Moment klar, dass diese Zeit in ihrem Leben für immer vorüber ist, ganz egal, was sie sich vormacht.
Nur wenig später sieht Miriam das Holzschild, das zu dem Altenheim zeigt, in dem die Diva lebt. Neben dem Namen ist mit grober Kreide eine kleine Figur gemalt, auf deren Schulter ein Vogel sitzt.
Die Diva hält tatsächlich eine Krähe in ihrem Zimmer. Das wache Tier mit dem bläulichschwarzen Gefieder sitzt in einem Käfig, größer als das Bett der winzigen alten Dame, deren Hinterkopf ein spärlicher Ballerinaknoten ziert. Ihre wenigen schwarz gefärbten Haare scheinen so straff gespannt, dass Miriam fürchtet, bei einem Lächeln könnte die Haut in dem spitzen Gesicht einen blutleeren Riss bekommen. Joes Tante mustert Miriam von Kopf bis Fuß. Mit sichtlichem Vergnügen bleibt ihr Blick an Miriams Bauch haften, als sie neben sich auf ihr Bett klopft.
»Kommen Sie! Setzen Sie sich zu mir, und zeigen Sie, was Sie mir mitgebracht haben. Der Pfarrer hat mich angerufen. Er wird froh gewesen sein, dass ihm jemand den Weg hierher abgenommen hat. Nein, er kommt nicht gerne zu mir herauf. Er fürchtet sich vor Golem.«
Mit mädchenhaftem Kichern zeigt sie auf ihre Krähe, die mit großer Geschicklichkeit ein Stück Weißbrot in drei gleiche Teile zerteilt. Eines davon isst Golem selber, die anderen zwei schubst er zur Käfigtür und krächzt penetrant.
»Ist ja gut, Golem! Ich werde es unserem Gast anbieten, aber sei nicht allzu enttäuscht, wenn die Freundin von unserem Josef dein Geschenk nicht annehmen kann in ihrem Zustand, da fürchtet sich eine Frau oft vor allerlei Krankheiten für ihr Kind. Sie sind doch die neue Freundin meines Neffen, oder?«
Miriam nickt eilig, um dem Blick der Diva zu entgehen, die jetzt eine überdimensionale Brille auf
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