Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
fällt jetzt offen auf den Schnee, so als würde sie ihr etwas mitteilen wollen. Nein, es geht nicht um das mangelnde Geld, da ist Miriam sicher. Es ist etwas anderes, denn hinter ihrem Führerschein hat sich ein Foto vorgeschoben, das sie in die Schublade ihrer unerwünschten Erinnerungen verbannt hatte. Es ist ein Urlaubsfoto. Diesen Urlaub auf Kuba hatte sie mit ihrem Modellhonorar für einen Katalog für Werkzeug bezahlt und ihren Mathematiker spontan eingeladen. Und er hatte mit Sicherheit die prozentuale Wahrscheinlichkeit durchgerechnet, ob er in seinem Leben noch einmal so billig nach Kuba kommen würde, und daraufhin mit Lichtgeschwindigkeit zugesagt. Es waren die schrecklichsten zwei Wochen ihres Lebens gewesen. Wie konnte sie nur annehmen, dass dieser Mann der Richtige für sie ist? War da je etwas Echtes gewesen? Jetzt spürt Miriam nicht einmal Traurigkeit bei seinem Anblick. Eine Schneeflocke fällt auf das Strandfoto in Varadero, das ein Kellner am letzten Ferientag geschossen hat. Ihre gebräunten Gesichter thronen auf zwei Körpern mit Idealmaßen. Sein Mund ist zu einem verkrampften Lächeln verzogen, das dem Kellner signalisieren soll, möglichst schnell seinen Finger zu bewegen, denn er hatte es gehasst, fotografiert zu werden. Ob er noch an sie denkt in seinem Mathematikeruniversum? Ob er eine Prozentzahl und eine Himmelsrichtung an das Wesen in ihrem Bauch verschwenden würde, wenn er davon wüsste? Plötzlich überkommt sie der Wunsch, zu vernichten, was von ihm übrig ist. Doch da dringt in Miriams düstere Gedanken ein Geräusch, und kurz darauf rollen die Lichter eines mechanischen Ungetüms durch die Fichten auf sie zu. Miriam entdeckt zuerst den Jungen auf dem Beifahrersitz, weil Bene außer sich vor Freude immer wieder ihren Namen ruft. Schlagartig wird ihr klar, dass der Cowboy sich auf die Suche nach ihr begeben hat. Er traut Miriam also nicht einmal zu, alleine zum Hof zurückzufinden.
Das gemeinsame Abendbrot bei den Stadlers beginnt mit einem ungewöhnlichen Tischgebet, in dem jede Menge Namen vorkommen, die als Gäste mit an den Tisch gebeten werden, zusätzlich zu dem Herrn Jesus, dem besonderen Gast, der alles segnet, was er beschert. Die unsichtbaren Kinder dürfen mit an den Tisch, weil sie alle die Geschwister vom Josef hätten werden sollen, wenn der liebe Gott es so gewollt hätte, wie Hilla es Bene und Anna-Sophie erklärt, bevor sie auf das Bild von Rosemarie zeigt. Auch Rosemarie wird im Tischgebet mit an die Tafel gebeten, denn sie war Josefs Ehefrau. Das Kindlein der beiden, mit der Engelstruppe im Himmel unterwegs, hat ebenfalls seinen Platz in der Stube der Stadlers. Der Cowboy hält seinen Kopf während des Gebets gesenkt, wie Bene bemerkt, und seine Hände sind nicht gefaltet. Es ist nicht recht, wie seine Mutter all das vor den Kindern ausbreitet, findet Miriam insgeheim. Fast scheint es Miriam in diesem Moment, als würde der Cowboy sich gerade noch schutzloser fühlen als sie gestern Nacht, als sie sich ihm nackt zeigte, nur dass er sich vor ihr nicht freiwillig entblößt hatte. Doch mit einem Mal breitet sich eine warme Welle des Mitgefühls in ihrem Inneren für ihn aus.
Vergeblich wartete Miriam später auf seine Schritte. Er kommt nicht. Während sie die Kerze nach ihrem Waschritual löscht und auch den letzten Wassertropfen von dem heiligen Holztisch wischt, an dem so viele Geister sitzen, kann sie nicht anders, als zu der Frau hinzusehen, die Joe einst geliebt hat. Strahlend steht sie neben einem sehr viel jüngeren Cowboy auf einem Foto, das kein traditionelles Hochzeitsfoto ist, wie Miriam es auf dem katholischen Land erwarten würde. Es hat weder etwas Steifes noch etwas Frommes, sondern eher eine humorvolle Leichtigkeit, um die Miriam die beiden auf Anhieb beneidet. Braut und Bräutigam sind barfuß auf dem Foto, und Joe trägt einen zerknitterten Sommeranzug zu seinem Dreitagebart und eine coole Sonnenbrille. Seine Gitarre hat er lässig über die Schulter gehängt, und Rosemarie trägt ihr Blumenkinderkleid ähnlich entspannt. Es ist einige Nummern zu groß, bodenlang und ganz einfach, und es passt zu ihrem gewölbten Bauch, auf den beide stolz ihre Hände gelegt haben. Hinter dem Brautpaar steht auf einer grünen Bergwiese eine kleine Kapelle. Familie und Freunde, einige auch in traditioneller bayerischer Tracht, sind locker mit ihren Kindern um das Paar gruppiert und wirken fröhlich und ausgelassen. Voller Hoffnung und Leben ist dieses Bild, aber
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