Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
Kälte fester an sich und legt sanft die Hand auf den Teil ihres Bauches, wo sie den Rücken ihrer Kleinen vermutet. Was ist, wenn dieses kleine Mädchen seinen Rechenschieber im Herzen haben wird? Miriam hofft es trotzdem so lieben zu können, wie sie Bene und Anna-Sophie liebt. Aber ihr ist mit einem Mal kalt, nicht so sehr von außen, sondern von innen, denn es muss schrecklich sein, ein Kind zu haben, das man nicht lieben kann. Schuldbewusst streicht sie über den ungeborenen Rücken unter den vielen Schichten. Du wirst es mir schon beibringen, wie ich dich am besten liebhaben kann. Mit einem tiefen Seufzer sieht Miriam nach oben in die Äste der Riesentanne. Wie viel Uhr es wohl sein mag? Durch den dichten Schneefall wirkt alles düster und unwirtlich, und sie muss bereits seit mehreren Stunden unterwegs sein, aber genau weiß sie es nicht. Miriam hat Uhren nie leiden können. Es war ein Befreiungsakt gewesen, dem Mathematiker den Chronometer für hundertzwanzig Euro, den er ihr, mit Preisschild versehen, zum dritten Jahrestag ihrer Beziehung geschenkt hatte, beim Abschied vor die Füße zu werfen. In ihrer Umhängetasche fischt Miriam instinktiv nach ihrem Handy, um zu sehen, wie viel Uhr es ist, doch da erinnert sie sich. Sie hat ja nur noch das Spielzeughandy, seit sie ihr eigenes verkaufen musste.
Bene hat gegen den dichten Schneefall ein Käppi von Joe auf, dessen Ohrenklappen aus Wolle ein wenig kratzen. Er macht sich inzwischen schreckliche Sorgen um Miriam. Schon seit längerer Zeit kann er sie nicht mehr einschätzen. Etwas in ihr war zerbrochen, als die Schwierigkeiten mit dem Geld zu einem unüberwindbaren Berg angewachsen waren. Miriam hatte begonnen, den Jungen an die kleinen Figuren in seinem Gameboy zu erinnern, die mit mechanisch fuchtelnden Schwertern in ihrer Panik immer weiter zurückweichen, wenn die Übermacht der Gegner einfach zu groß ist. Am Schluss werden ihre Schläge unkontrolliert, und dann kündigt ein Blitz das Auslöschen an, und die Figur ist verschwunden. An der Stelle soll ein roter Fleck vergossenes Blut andeuten, aber die nachrückenden Kämpfer stürmen einfach darüber, um das nächste Opfer zu vernichten. Bene ist sich nicht sicher, wer genau Miriams Gegner sind. Die Frau vom Jugendamt hatte sehr viel Verständnis für Bene und Anna-Sophie gezeigt, und warum Miriam eine solche Wut auf die Behörden hat, weiß Bene auch nicht genau, denn die Frau hatte vernünftige Sachen gesagt. Aber in seiner Welt, die früher einmal heil war, hatte es nie eine Frage gegeben, wo ein Kind hingehört, und es hatte ihn verwirrt, dass das plötzlich anders war. Ein Baby kann man zur Welt bringen oder auch nicht. Anna-Sophie und er könnten notgedrungen neue Eltern bekommen, weil Tante Miriam es nicht auf die Reihe kriegt, aber vielleicht käme Bene auch in eine Art Heim, wo andere Kinder in seinem Alter aufwachsen, die im Leben Pech hatten. Familie gab es nur noch in einem Sortiment, das leider nicht immer vollständig vorrätig zu sein schien. Miriam, Bene und Anna-Sophie wären mit dem neuen Baby auf alle Fälle keine Familie oder aber eben nur das Angebot in der letzten Ramschecke im Sonderverkauf. So hatte Bene es verstanden, weil es bei Familie wohl vor allem um Geld geht. Wenn er zu einer fremden Familie käme, würden sein neuer Vater und seine neue Mutter dafür vom Staat eine regelmäßige Summe bekommen. Aber dieses Geld würde locker reichen, um ihre Miete in Haidhausen zu bezahlen, wie Miriam betont hatte. Für Anna-Sophie galt das Gleiche, denn wenn sie bei fremden Menschen wohnen würde, bekämen die auch jeden Monat Geld. Damit könnte Miriam das Essen bezahlen, aber das erlauben die Regeln nicht. Ob Bene zusammen mit Anna-Sophie in eine Familie käme, war nicht klar, denn auch das ist im Sortiment leider nicht immer vorrätig. Für Bene liegt auf der Hand, dass es sich um ein Geschäftsmodell handelt, das von Erwachsenen erdacht wird, die solche Spiele mögen, in denen man Menschen und Geld verknüpft. Niemand schien etwas von der Verbundenheit der Seelen zu wissen, die sein Vater ihm am Meer erklärt hatte. Papa hatte damals für ihn eine Zeichnung in den Sand geritzt. Der Sandbaum hatte kleine Verästelungen und größere Zweige. An einen der Zweige hatte Papa Kieselsteine für ihre Familie gelegt, und Miriam hatte auch einen Stein bekommen. Ihr Kiesel war dunkel und hatte an einer Seite einen weißen Strich. Durch Liebe waren sie alle fünf verbunden.
Bene blinzelt einen
Weitere Kostenlose Bücher