Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
fünf Meter weit sehen. Er musste weg vom Hof. Vor allem die Kinder dürfen nicht merken, dass er sich volllaufen lassen muss, weil er panische Angst hat. Schrittweise kämpft sich Molly durch den Schnee. Wüstenmusik dröhnt aus den Lautsprechern, aber Miriams Stöhnen auf der Autobahn drängt sich zwischen die Trommelklänge. Fieberhaft sucht der Cowboy im rauschenden Radio nach einem Klang, der ihn aus dem Strudel seiner Panikgedanken reißt, die ihm jetzt fast körperliche Übelkeit bereiten. Er nimmt noch einen Schluck Obstler. Dann findet er etwas, stärker als Miriam und größer als seine Panik. Johann Sebastian Bach, Aria Nr. 39, eine alte Aufnahme, gesungen von Julia Bäcker, einer guten Freundin seiner Frau. Rosemarie hatte Julias steile Solistenkarriere über die Jahre begleitet und war selig, als sie bei ihrer Hochzeit vor zwölf Jahren gesungen hat, obwohl sie deswegen extra aus Mailand einfliegen musste. Für Joe ist Julia seit Rosemaries Tod zu einem fernen Stern geworden, aber sie singt den ergreifenden Text der Matthäuspassion einfach großartig.
Erbarme dich,
mein Gott, um meiner Zähren willen.
Schaue hier,
Herz und Auge weint vor dir,
bitterlich.
Joe erinnert sich genau, wie sie sich einst wegen des Textes gestritten hatten. Rosemarie hatte statt Zähren das Wort Ähren verstanden und ihre eigene Geschichte konstruiert, warum sich Gott der Ähren wegen erbarmen sollte. Schmerzhaft nah hört Joe jetzt Rosemaries Worte, geprägt von fast kindlichem Ernst. Mit ihrem typischen Lispeln versuchte sie, ihm weiszumachen, das Wort Zähren würde gar nicht existieren. Rosemarie liebte Wortgefechte mit Joe, musste aber unbedingt gewinnen, und er hatte sie in dem Glauben belassen, um sie ins Bett zu bekommen. Erst danach hat er ihr die Matthäuspassion wortlos hingelegt. Rosemarie hatte nichts gesagt, doch als er die Noten wegräumen wollte, hatte sie bei dem Wort Zähren einfach das Z ausgestrichen. So war Rosemarie, grinst Joe, als er erneut die Flasche ansetzt. Da drehen Mollys Räder durch. Hier oben liegt mehr als ein halber Meter Neuschnee. Trotz mehrerer Versuche kommt Joe weder vorwärts noch rückwärts aus dem Schneehaufen und steigt schließlich aus, um sich zu orientieren. Er will zu der Stadler’schen Bergscheune, in der er früher oft Zuflucht gesucht hat, wenn er es auf dem Hof nicht ausgehalten hat, aber er kann so gut wie nichts sehen. Joe kneift seine Augen gegen den flirrenden Schnee zusammen und versucht in der Dämmerung auszumachen, wo genau Molly stecken geblieben ist. Durch die dichten Flocken glaubt er jetzt etwa hundert Meter weiter das Holz der Scheune zu entdecken. Die Flasche in der Hand, sein schwarzes Bühnenjackett weit offen, marschiert er los. Er ist immun gegen die Kälte, wie er mit einer gewissen Genugtuung feststellt. Seit dem Sechsuhrfrühstück auf dem Hof hat er nichts gegessen, und der Obstler brennt angenehm heiß in seinem Magen. Halb versinkt er in dem Haufen Weiß, während er in Richtung Scheune stolpert, begleitet von Bachs Geigenklängen, die mit Julias reiner Stimme um Gottes Erbarmen wetteifern. Er mag das Wort Zähren sehr. Für ihn sind die Zähren keine normalen Tränen, sondern eben die ungeweinten, die um so vieles bitterer sind, weil ein Schmerz dann nie aufhören kann.
Vor Benes Augen lässt Alembusch in einem Winkel der Scheune über die Klinge seines reich verzierten Silberschwertes Wasser laufen. Wieder und wieder füllt er seinen Schwamm über der Plastikschüssel mit Wasser und lässt es über die Klinge mit den eingravierten Zeichen rinnen. Der Tuareg erklärt dem Jungen, dass man es in seiner Heimat so macht, wenn eine Frau ihr Kind bekommt, damit sie eine leichte Geburt hat. Sein Tuaregschwert, genannt Takouba, fasziniert den Jungen. Zudem ist es in der Scheune in der Nähe der beiden Haflinger zumindest schön warm. Bene will erst wieder zu den Frauen ins Haus, wenn alles vorbei ist. Anna-Sophie ist bei Hilla in der Stube. Sie soll dort mithelfen, eine Mahlzeit herzurichten, bei der sich alle stärken, wenn das Kind endlich auf der Welt ist. Aber Bene fühlt sich deutlich wohler bei den Männern. Einmal hat er Miriam über den Hof hinweg so laut schreien hören, dass sogar die Pferde unruhig wurden. Draußen ist es inzwischen fast dunkel. Bene sieht zu Bärli und Constantin hinüber, die mit Joes Vater Karten spielen, zwischen sich ebenfalls eine Flasche Obstler. Alembusch lehnt das Glas ab. Als frommer Muslim hält er sich an seine
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