Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
mussten, damit sie in Deutschland nicht zu verdorbenen Mädchen würden. Die Bedeutung des Wortes »verdorben« war für Miriam bis dahin eher abstrakt. Trotz Hannahs Lektionen waren Carola und sie sexuell freizügig aufgewachsen. Verbote waren Hannah fremd. Wenn sie merkte, dass ein wilder Pavian ihre Mädchen in Gefahr bringen könnte, hatte sie getan, was die anderen klugen Mütter auch taten. Wie eine Katze ihre Jungen bei Gefahr am Nackenfell packt, um sie an einen sicheren Ort zu tragen, brachte Hannah ihre beiden hitzigen Knospen zu einer guten Gynäkologin. Miriam erlebte mit sechzehn ihr erstes Mal. Ihr erster Mann war zehn Jahre älter, besaß sehr wenig Phantasie, aber dafür bereits eine Frau und ein Kind, was Miriam leider zu spät erfuhr. Sie brauchte fast ein Jahr, um diesen Schmerz zu verdauen. Für Miriam war Kemal in dieser Hinsicht eine Offenbarung. Nicht nur hatte er ihr die schönsten Liebesbriefe geschrieben, sondern er war auch für jeden Unsinn zu haben. Einmal wollte Miriam im Sommer mitten in der Nacht auf der hölzernen Plattform in ihrem Lieblingssee mit ihm schlafen. Allein die Tatsache, dass Kemal sie um Mitternacht wie versprochen vor ihrem Fenster in der Grünen Straße abgeholt hatte und mit ihr auf seinem Motorrad zum See gefahren war, hatte Miriam bezaubert. Sie hatte damals ernsthaft erwogen, zum Islam überzutreten. Wieder war Hannah gefragt gewesen. In endlosen Tischgesprächen zwischen Mutter und Tochter wurde über Religion, aber auch über ein inneres Zuhause gesprochen. Für Carola war immer die Musik ein wichtiges Zuhause. Aber für Miriam, ständig auf der Suche, rastlos und voller Leben, musste dieses innere Zuhause irgendwie etwas Größeres sein. Weder die Saiten einer Bratsche noch der Pinselstrich eines Malers waren groß genug. Es musste die Religion sein, eng verbunden mit Miriams unersättlicher Sinnlichkeit. Das war ihr Sternenritt, wie Kemal es nannte, wenn er ihr danach voller Zärtlichkeit beide Augen küsste. Der Islam war sehr attraktiv, bis die Gewitterwolken kamen und sämtliche Sterne verschwanden. Eines Nachts hatte Kemal verzweifelt geweint und Miriam gebeten, seine Tränen mit ihren Lippen wegzuküssen. In seiner Kultur hätten sie als unglücklich Liebende so zumindest eine Chance, für ewig zusammenzubleiben. Danach kniete Kemal sich hin, um mit wiegendem Oberkörper ein dramatisch klingendes türkisches Gebet zu sprechen, obwohl er eigentlich bis auf die Fastenzeit im Ramadan locker mit den Gebräuchen des Islam umging. Das Gewitter brach los, denn Kemals Großmutter, Chefin der Krähen, hatte entschieden. Nach vorne hin mit falschem Gebiss unaufhörlich lächelnd, wollte sie nichts von der deutschen Schlampe wissen. Bis heute hatte Miriam die Alte in Verdacht, hinter den vielen Ekelhaftigkeiten zu stecken, die sie bei ihrem Besuch in der Türkei erfahren musste. In Benzin getauchte Tampons waren noch die witzigste Variante der hinterhältigen Krähensprache. Weniger witzig waren der zerschnittene Bikini und Miriams zertretene Zahnspange, die sie damals noch jede Nacht trug, weil sie unbedingt ein Filmstarlächeln wollte.
»Scharf oder weniger scharf?« Miriam ist mit ihrer Bestellung an der Reihe. Unsanft wird sie aus ihren Erinnerungen gerissen und weiß sofort wieder, warum sie keinen Döner mag. Die Türkei ist ihr seit damals zuwider. Dieser imposante Dönerchef muss mindestens sechzig sein, aber sein Lächeln ist keine dreißig. Wie alle türkischen Männer kann er wunderbar mit seinen Augen flirten. Unersättlich und voller Sehnsucht nach dem Strahlen jeder x-beliebigen Venus schürzt der Alte seine Lippen zu einem Lächeln.
»Nun? Scharf?«
Weiblich gehorsam lächelt Miriam den buschigen Brauen zu. »Erst die Kinder. Du, Bene?«
»Einmal alles mit Zwiebeln, aber nicht sehr scharf.«
»Und du, Anna-Sophie?«
Wenig später sitzt Miriam mit ihrer Familie im Dönersupermarkt Verdi auf klapprigen Campingstühlen. Sie muss zugeben, dass diese Döner phantastisch aussehen und vor allem so riechen. Die anderen Gäste müssen sich mit den wenigen Stehtischen begnügen, an denen sie mit Ayran und Cola die gewaltigen Döner runterspülen. Der Cowboy hat recht gehabt. Verdi ist nicht irgendeine Dönerbude. Amüsiert über den ungewohnten Sonderstatus, den der Chef ihnen wegen Miriams Schwangerschaft zugestanden hat, flüstert Joe verschwörerisch mit den Kindern.
»Sitzen! Ich! Hier! Des hab ich in den letzten zehn Jahren noch nie erlebt. Das hab
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