Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
insgeheim über Benes errötendes Gesicht lächeln. Anna-Sophies anbiederndes Verhalten geht ihrem Bruder sichtlich gegen die Ehre. Anna-Sophie genießt ihre Überlegenheit.
»Papa, Papa, Papa!«
Bene hebt die Hand, als würde er Anna-Sophie schlagen wollen, aber das kann Miriam nicht zulassen. Energisch schüttelt sie den Kopf.
»Lass sie doch, Bene. Es ist ewig her, seit Anna-Sophie bei eurem Papa auf dem Schoß sitzen konnte. Das geht eben nicht so gut auf der Wolke. Und wenn es Joe nicht weiter stört …?«
Joe zuckt mit den Schultern, so als wäre es ihm gleichgültig, ob dieses kleine Mädchen mit den feuchten Haaren, die ihn an der Nase kitzeln, nun auf seinem Schoß sitzt oder aber nicht. Doch in Wirklichkeit sind seine Gefühle in Aufruhr. Er weiß nicht, warum, aber er spürt eine Enge um seine Brust, fast wie einen Reifen aus Eisen, der ihn einschnürt. Hat er sich erkältet? Fängt sein Herz an, sich zu melden, so wie bei seinem Vater, der in Joes Alter einen Infarkt hatte? Oder sind es die gspinnerte Schwangere und diese eigenartigen Kinder, die ihn auf merkwürdige Weise beunruhigen? Er lächelt Anna-Sophie zu.
»Kannst schon sitzen bleiben.«
Aber so richtig wohl fühlt Joe sich nicht. Er setzt Anna-Sophie vorsichtig ein wenig anders hin, um besser durchatmen zu können. Wann kommen denn die verdammten Döner? Bestimmt hat sein Unwohlsein mit seinem knurrenden Magen zu tun. Immerhin hat er seit dem späten Vormittag nichts mehr zu sich genommen. Das tut Joe schon unter normalen Umständen nicht gut, weswegen er meistens etwas zu essen dabei hat. Die Zimtsterne seiner Mutter sollten heute den Zweck erfüllen, aber er hat nur einen einzigen abbekommen, weil die Kinder hungrig waren.
»Wo bleibt das Essen?«
Endlos ziehen sich die Sekunden, während der vierte Döner mit Salat und Joghurtsoße gefüllt wird. Chef und Assistent streiten sich, oder zumindest sieht es so aus. Die expressiven Gesten zwischen türkischen Männern bringen Miriam zum Schmunzeln, seit Kemal ihr in einer Diskothek in Istanbul zugeflüstert hat, dass die Drohgebärden seiner Landsleute dem Anlocken der Weibchen dienen.
Joe ist irritiert. Warum lächelt die Schwangere schon wieder so vergnügt vor sich hin? Unantastbar und hermetisch abgeschlossen kommt ihm jetzt die Dresdnerin vor, die mit gleichmäßigen Bewegungen immerzu über ihre Kugel streicht, so als würde sie ihrem ungeborenen Kind eine Geschichte erzählen, die niemand sonst hören darf. Schmerzlich flackert in ihm die Erinnerung an einen Tag vor mehr als zwölf Jahren auf, an dem seine schwangere Liebste gefragt hatte, ob sie ihm etwas anvertrauen dürfte, was sie noch keiner Menschenseele je gesagt habe. Es war das Kind in ihrem Bauch, das diese Form von Wahrheitsliebe von ihr verlangte, wie sie ihm gestand. Joe wäre nie darauf gekommen, dass seine Rosemarie überhaupt dazu fähig wäre, ein Geheimnis zu bewahren. Sie kannten sich bereits seit frühester Kindheit. Im Nachhinein hat er sich in zahllosen Nächten gewünscht, dass sie sich ihm damals nicht anvertraut hätte. Die Schwere von dem, was Rosemarie seit ihrem sechsten Lebensjahr bleiern in sich trug, hat das Gefüge seiner Liebe zu ihr innerhalb von Sekunden radikal auseinandergesprengt. Nicht jede Liebe erträgt die Wahrheit. In Windeseile war zwischen ihnen ein unüberwindbarer Berg gewachsen, der sie letztendlich alle drei unter sich begraben hatte. Nur durfte Joe nicht mit Frau und Kind im ewigen Frieden ruhen, sondern musste weiterhin in irdischen Koordinaten seinen Frondienst leisten. Wahrscheinlich ist es ein Lied, das ihm noch fehlt, ein Lied, das von Abschied handelt und gleichzeitig die Hoffnung auf einen Neuanfang in sich trägt. So ein Lied müsste er finden. Aber wie soll in ihm ein Lied entstehen, wenn die Augen des kleinen Mädchens auf seinem Schoß so beharrlich in sein Innerstes zu starren scheinen.
»Was ist? Was siehst du mich so an?«, fragt Joe.
Anna-Sophie lächelt vorsichtig.
»Du siehst traurig aus. Bist du traurig?«
»Nein! Ich hab nur Hunger!«
Weiter sagt Joe nichts, sondern schließt für einen Moment die Augen, um seine Gefühle zu beruhigen. Maximal eine halbe Stunde noch wird er den braven Samariter spielen, aber dann ist es wirklich genug. Zu Joes Hunger gesellt sich ein vertrautes Gefühl. Ihm ist zu eng in seiner Haut. Besonders zwischen seinem Bauchnabel und seiner Halsgrube scheint sie zu straff zu sitzen für das heftig klopfende Etwas in dem Rippenkäfig
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