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Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte

Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte

Titel: Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Joens
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besuchten. Niemand außer Joe malte dort Bilder oder spielte stundenlang mit Großvaters altem Jojo, während er sich Geschichten und Spiele für seine Geschwister ausdachte.
    Mit zunehmendem Alter wurde für Joe der Tod ein grausamer Räuber vieler schöner Stunden. Er weigerte sich, mit seiner Mutter auf den Friedhof zu gehen, und empfand die Teller, die bei ihnen zu Hause an Festtagen für die toten Geschwister aufgedeckt wurden, als Zumutung. Joe wollte einen echten Tisch, voll mit fröhlichen Kindern. Kurz darauf fühlte sich Joe zum ersten Mal bitterlich allein, denn auch sein geliebter Opa Josef hatte eines Sommermorgens beschlossen, auf den Friedhof zu ziehen. Vielleicht hat Joe sich deshalb nie als reicher Mann empfunden. Er war arm, bitterlich arm sogar. Im Dorf blieb er lange ein Sonderling und wurde später humorvoll von seinen Spezln als »arme Sau« tituliert, weil Hilla ihn kaum aus den Augen ließ. Natürlich war Joe beim Pfarrer Ministrant, lernte die Geige, das Klavier und dazu noch die Orgel spielen. Aber er wurde von der Mutter immer behütet. Hilla hatte sich ein Sammelsurium an Verlustängsten zugelegt, und sogar Schwimmen und Fahrradfahren lösten angeblich mütterliches Herzflattern aus. Daher musste vieles in aller Heimlichkeit stattfinden, und nur durch seinen Vater konnte Joe sich halbwegs normal entwickeln.
    Joe setzt den Blinker und biegt mit Molly aus der Einfahrt in die Straße ein, die in Richtung Hauptbahnhof führt. Mit einem engen Gefühl um die Brust denkt er an Miriams dramatischen Aufbruch zurück. Als die drei weg waren, breitete sich das Schweigen wie eine bleierne Wolke in dem Übungsraum aus. Joes inneres Unbehagen wuchs von Minute zu Minute, denn ihm wurde immer stärker bewusst, dass er etwas für die drei Verlorenen tun musste, wenn er heute Nacht gut schlafen wollte. Conni hatte dem Jungen noch heimlich zwanzig Euro zugesteckt, ein für Conni großzügiger Obolus. Beruhigung für sein schlechtes Gewissen. Bärli fand es zwar verrückt, dass Joe sich darum kümmern wollte, dass die drei sicher auf den Zug kommen, aber auch er hielt Joe plötzlich einen Geldschein hin. Joe setzt erneut den Blinker und biegt ab. Es ist ekelhaft hier draußen, und innerlich verflucht er Miriam. Hätte sie vorhin nicht so ein Theater gemacht, müsste Joe sich jetzt nicht wie ein gottverdammter Idiot fühlen. Wenn er sie am Bahnhof findet, wird er Miriam genug Geld für die drei Fahrkarten und notfalls auch noch für ein Hotel geben. Aber dann ist wirklich Schluss mit seinem verdammten Samaritertum.
    Miriam hatte völlig vergessen, wie eisigkalt die Winternacht ist. Es hatte erneut begonnen zu schneien, und zusätzlich war ein schneidender Wind aufgekommen. Fast schlafwandlerisch folgt Miriam der Hand, die sie führt, und überlässt es dem Jungen, die Richtung anzugeben. Sie hat keinen Plan mehr. Selbst das weinende kleine Mädchen an ihrer anderen Hand dringt kaum zu ihr durch. Ihr unkontrollierter Ausbruch im Übungsraum kostete Miriam eine Kraft, die sie nicht hat. Ihr Bauch ist schwer und zieht zur Erde, sodass ihre Seiten bei jedem Schritt schmerzen. Die nette Hebamme in Erding hatte gesagt, dass diese Schmerzen in der letzten Woche vor der Niederkunft natürlich sind. Ihr Becken muss sich weit genug öffnen, um das Kind durchzulassen. Einiges in Miriam müsste sich strecken und dehnen, vor allem im Bereich der schmerzenden Leisten, auf die sie jetzt am liebsten ihre Hände drücken würde. Aber Miriam hat ihre Hände nicht zur eigenen Verfügung. Anna-Sophies Klammergriff ist eisern. Ihre billigen Kinderfäustlinge schneiden in die nackte Haut von Miriams Handfläche, aber loslassen kann Miriam die Hand nicht, denn das Mädchen weint unaufhörlich vor sich hin.
    »Meine Puppe! Ich will meine Papagena …«
    Nicht auch noch das, flucht Miriam innerlich, während sie sich von Bene auf das neonbeleuchtete Straßenbahnhäuschen zuziehen lässt, das um diese Zeit menschenleer ist. Sie brauchen Schutz vor dem Wetter. Obwohl es erst zehn ist, sind nur noch wenige Menschen auf der Straße. Mit hochgeklappten Mantelkragen, Kinn fest in den Schal gedrückt, versuchen vorbeieilende Passanten dem eisigen Wind ebenfalls zu entkommen. Feine Schneekristalle treiben in großen Wirbeln durch baumlose Straßenschluchten und zwingen die Menschen zur Eile. Im Licht der Straßenlaterne winden sich die bläulich schimmernden Schienen der Straßenbahn im rutschigen Kopfsteinpflaster zu einer gewagten Kurve, an

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