Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
Kittel der Mutter an, arbeitete ab Sonnenaufgang im Stall, auf den Feldern und in der Küche. Sie kümmerte sich darum, dass Hilla ordentlich in die Schule ging und der Vater endlich eine Prothese bekam, aber sie hasste jede Minute. An Hillas dreizehntem Geburtstag packte sie ihren Koffer, übergab der kleinen Schwester die Schlüssel für Haus und Hof und zog nach Salzburg. All das erzählt Hilla ihrem Kindheitsfreund Ernst, als sie sich beim Johannifest zufällig treffen. Mit siebzehn wohnt Hilla allein mit dem Vater auf dem Hof und gibt ihr Bestes im Stall, im Haus und auf den Feldern. Abends lernt sie, bis ihr die Augen zufallen, weil sie nicht dumm bleiben will. Ernst besieht sich Hillas Hände, die sie verlegen vor ihm verbergen will. Hilla hat keine schönen Hände mehr, seit sie hart zupacken muss. Zurzeit hat sie zudem einen schwarzen Nagel, da sie sich am Pflug verletzt hat. Die harte Arbeit auf dem Feld ist nicht einfach. Nicht nur Hillas schöne Augen sind der Grund dafür, dass Ernst seine Pläne ändert, sondern vor allem Hillas Vater Josef. Er gehörte zu dem Regiment, in dem auch Ernsts Vater diente. Endlich erfährt der junge Mann die Hintergründe dafür, dass sein Vater damals geflohen ist. Ernst war nicht der einzige Deserteur. Zwei weitere Männer verweigerten den Befehl, in einem Dorf unschuldige Frauen und Kinder zu erschießen. Josef gehörte leider nicht dazu. Als Ernst die ehrlichen Worte hört, wird es in ihm ruhig und warm. Eine wunde Stelle hört endlich auf zu schmerzen.
In all den Jahrzehnten ihrer im Ganzen glücklichen Ehe haben Joes Eltern nie viel über ihre tiefsten Wunden gesprochen. Sie wussten, dass sie unheilbar sind. Der Schrecken des Krieges ist in ihre Seelen eingeätzt und wurde zu einem Teil ihrer selbst, den sie an ihren Sohn Joe weitergegeben haben. Seit dem Krieg wartet Hilla auf den Tag, an dem durch göttliche Hand ihre schrecklichen Erinnerungen ausgelöscht werden. Eine davon sucht Hilla jedes Jahr zu Santa Lucia heim. Ein furchtbares Kriegsverbrechen hat sich unmittelbar oberhalb ihres Hofes abgespielt. Es ist ein grauenhaftes Bild, das Hilla mit niemandem je teilen wird. Aber die Albträume gehen auch nicht weg. Die Asche der Ermordeten ist durch den Regen tief in die Erde der Felder eingedrungen. Wenn es dann Frühjahr wird und das Grün auf den Feldern zu sprießen beginnt, fängt Joes Mutter jedes Jahr aufs Neue an zu träumen. Oft träumt sie in einer Nacht das Leben einer großen jüdischen Familie, von der nur die Asche auf den Feldern geblieben war. Die älteste Tochter heißt Esther. Ihr Leid ist unaussprechlich. Nie wird Hilla die Filme über die KZ-Opfer vergessen, die man ihnen nach Kriegsende in der Schule gezeigt hat, aber sie sind im Vergleich zu Hillas Träumen harmlos. Jedes Mal, wenn Hilla in der Dorfkirche die ausgemergelte Gestalt von Jesus am Kreuz betrachtet, hängen die Ermordeten neben ihm. Mit ihrem Mann kann sie nicht über ihre tiefsten Zweifel am christlichen Glauben sprechen, und auch ihrem Sohn gegenüber ist sie immer vorsichtig gewesen. Sie trägt das Leid lieber allein. Ihre Tränen gibt sie der Natur, wie auch ihre Mutter es vor ihr getan hat. In der Osternacht, zu Johanni, zu Sankt Michaeli und an Santa Lucia schicken die Frauen des Dorfes an den magischen Plätzen in der Natur ihre vielfältigen Bitten gen Himmel. Die Heilige Mutter möge ihren Mantel der Vergebung ausbreiten über die Männer des Dorfes, die in fremden Ländern und auch in der eigenen Heimat ganzen Familien unaussprechliches Leid zugefügt haben.
Joe steigt in sein Taxi, um nach Hause in den Chiemgau zu fahren. Nach dem, was er gerade mit der fremden Frau und den beiden Kindern erlebt hat, braucht er Ruhe. Die Wintersonnenwende ist nur noch wenige Tage weg, aber Joe feiert Santa Lucia schon lange nicht mehr. Überhaupt haben die Traditionen seines Dorfes für ihn an Bedeutung verloren. Einst war das anders. Joe liebte die Feste. Ein Stück hügeligen Waldes gehört zu dem Besitz seiner Eltern. Durch den Wald fließt der Bach aus den Bergen, in dem die jungen Mädchen aus dem Dorf in Joes Kindheit in der Osternacht ihre Gesichter wuschen, um für den zukünftigen Liebsten ewig schön zu bleiben. Bis auf den Chiemsee konnte Joe von seinem Fenster im Dachgiebel sehen, nachdem er mit seinem Vater den Dachstuhl ausgebaut hatte, damit Joe für seine Musik einen eigenen Übungsraum hatte. Joes Eltern waren sich damals noch sicher, dass ihr einziger Sohn das
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