Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
zusammenzubrechen, denn sie hatten immerhin noch ihr Zuhause. Jetzt aber ist es geschehen. Ihre Welt ist zusammengebrochen oder, besser gesagt, Bene ist an der Stelle angekommen, vor der er sich am meisten gefürchtet hat. Er weiß, dass alle alten Spiele ihre Kraft verloren haben, mit denen sie sich die letzten Monate von ihren Problemen abgelenkt hatten. Sie sind am Ende angekommen. Bene steckt seine Hände in die Hosentaschen, wo es noch am wärmsten ist. Er fühlt dort die Ecken der Karte mit der Notrufnummer, die er bereits seit Wochen wie einen verbotenen Schatz mit sich herumträgt. Die Frau vom Jugendamt war auf Bitten der besorgten Lehrerin in die Schule gekommen, um mit Bene unter vier Augen zu sprechen, weil Miriam auch in der Schule bei den Beratungsgesprächen eher uneinsichtig gewesen war. So wurde es diplomatisch formuliert, als die Frau vom Jugendamt Bene ihre Visitenkarte hinlegte. Als Sicherheitsnetz sollten die Nummern dienen, denn ähnlich wie die Artisten beim Zirkus würde Bene ein Netz brauchen, um bei einem Absturz nicht auf dem harten Boden zu zerbrechen. Das Wort »zerbrechen« hatte die Frau betont und Bene dabei in die Augen gesehen, so als wollte sie prüfen, wie weit oben er auf dem Trapez steht. Bene hatte den inneren Schleier über seine Augen gesenkt, der alles verbarg, was verborgen werden musste. Seine Mutter hatte ihm dieses magische Werkzeug kurz nach ihrem Tod in einem Traum gebracht. Schleieraugen waren ein wunderbares Geschenk. Auf Bene warteten in nächster Zeit Aufgaben, die sehr spezielle Fähigkeiten erforderten, hatte seine Mutter ihm im Traum zugeflüstert. Bene würde weiterhin seine präzisen Ohren brauchen, mit denen er schon immer schnell unterscheiden konnte, ob ein Wort ehrlich gemeint war oder nicht. Aber von nun an würde Bene auch den ehrlichen Blick aus seinen Augen für eine gewisse Zeit verstecken müssen. Nie sollte er Fremden seine Unsicherheit, Schwäche oder gar seine Angst zeigen, solange Miriam nicht mit ihnen in Sicherheit war. Im Traum hatte seine Mutter Bene auf beide Augen geküsst und ihm versprochen, dass er mit diesen Augen von nun an seine Gefährten erkennen würde, die auf ihn und seine Schwester aufpassen würden. Da werden neue Freunde sein, ich verspreche es dir, das hatte seine Mutter gesagt. Sie hatte aber vergessen zu erwähnen, woran er diese Freunde erkennen könnte. Trugen sie ein Zeichen? Auf der Visitenkarte der Frau ist eine Notrufnummer notiert, die ganz ohne Geld funktioniert und speziell für Kinder und Jugendliche gedacht ist, die nicht mehr weiterwissen. Zusätzlich hatte die Frau ihm ihre eigene Nummer notiert, eine Handynummer, die er bei Bedarf Tag und Nacht anrufen könnte. Bene fährt vorsichtig über die harten Ecken des Pappkärtchens. Die Ecken haben vom vielen prüfenden Betasten ihre anfängliche Schärfe verloren, aber Bene ist sich immer noch nicht sicher. Er überlegt, ob das hier so ein Notfall ist, von dem die Frau gesprochen hat. Aber wenn es ein Notfall wäre, woher sollte er jetzt ein Telefon bekommen, um eine der beiden Nummern zu wählen? Und selbst wenn er die Nummern wählen würde und die Frau tatsächlich antwortet, so weiß er nicht, ob sie eine Freundin ist. Sicher würde sie einen Polizeiwagen schicken. Dann würde man Anna-Sophie und ihn von Miri und dem Baby trennen. Das würde seine Mutter sicher nicht wollen. Bene muss Miriam helfen, so würden seine Eltern es von ihm wollen, und er versucht, so unbesorgt wie nur irgend möglich zu klingen.
»Es geht schon irgendwie weiter, Tante Miri. Wir schaffen das. In Dresden, bei deinen Freunden, wird uns sicher geholfen …«
Miriam versucht, ihrem Neffen zuzulächeln. Sie weiß, dass er genauso viel Angst hat, ihr aber Stärke und Zuversicht vermitteln will, ganz wie sein Vater es immer getan hat. Miriam hat sich ein wenig gefangen und versucht, mit einem kläglichen Lächeln Zuversicht vorzutäuschen.
»Na klar, alles wird gut! Solange wir drei zusammenbleiben können, kann uns nicht wirklich etwas passieren. Wir fahren jetzt zum Bahnhof. Um diese Zeit gibt es kaum noch Kontrollen.«
Als Miriam ihren Arm tröstend um Benes und Anna-Sophies Schulter legt, kommt Bene sich wegen der Visitenkarte plötzlich so schlecht vor, dass er am liebsten in Grund und Boden versinken würde. Bene holt den sorgfältig gefalteten Geldschein hervor, den der nette Keyboardspieler ihm beim Abschied zugesteckt hat. Damit sollen sie sich zu ihren Freunden ein Taxi nehmen.
Weitere Kostenlose Bücher