Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
und ehrlich, gänzlich frei von Illusionen über die Abgründe der menschlichen Seele. Joes Vater ist bewusst, welche Last der Schuld auf jedem Einzelnen liegt, der einst im Chiemgau sein Nachbar war. Von seinen jesuitischen Lehrern ermutigt, verlangt Ernst dennoch sein Recht und fordert sein ehemaliges Elternhaus von der Gemeinde zurück. Der Pfarrer im Ort soll ihm dabei zur Seite stehen. Doch er bekommt für Haus und Grund von dem Bürgermeister so gut wie nichts geboten. Der ehemalige Linientreue lässt Ernst keine Sekunde vergessen, was für eine Schande ein Deserteur für das Regiment war. Wegen Männern wie Ernsts Vater hätten die Deutschen den Krieg verloren. Nur der Fürsprache des Pfarrers ist zu verdanken, dass Ernst nicht ganz mit leeren Händen wieder abziehen muss. Ernst beschließt, im Chiemgau zu bleiben. Eine ungewisse Sehnsucht nach einem Stück verlorenem Paradies hält ihn am Chiemsee. Es ist ein bestimmtes Abendlicht, das sich auf dem See spiegelt und auf der Wasseroberfläche mysteriöse Muster bildet, wenn der Wind darüberstreicht. In den Mustern glaubt Ernst das Gesicht seiner Mutter zu sehen. An diesem Steg hatte Ernst zwischen den fröhlichen Eltern gesessen und seinen ersten Fisch geangelt. Zunächst will Ernst Priester werden. Er plant, mit der Abfindung für Haus und Grundstück nach Rom zu gehen, um nach der Ausbildung im jesuitischen Priesterseminar in den Chiemgau zurückzukehren. Sonst sieht er für sich im Deutschland der Nachkriegszeit nicht viel Zukunft, denn an dem Ort seiner Kindheit ist man vor allem mit Verdrängung beschäftigt. Selbst der Pfarrer behauptet auf der Kanzel, Jesus sei nicht wirklich ein Jude gewesen, zumindest nicht so ein Jude wie die, deren Asche die Erde der deutschen Felder düngen musste. Ernst wird körperlich schlecht bei all den Lügen. Das benachbarte Österreich kann Ernst besser ertragen, und er liebt Italien, wo er bereits zweimal war. Dem Land der Mörder seines Vaters will Ernst gerade endgültig den Rücken kehren, als er kurz vor seiner Abreise Hilla sieht. Da sie beide einen reinen Kindersopran und eine schnelle Auffassungsgabe hatten, standen sie zwei Jahre lang zusammen im Chor in der ersten Reihe und teilten sich ein Gesangbuch. Hilla erkennt Ernst sofort, weil er seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Sehr vorsichtig beginnen sie, miteinander zu sprechen, beide in ihren jungen Leben von schweren Verlusten gezeichnet, beide auf ihre Weise erschreckend einsam. So als würden sie unter einer verdunkelten Glasglocke leben, abgeschnitten von dem, was in den Städten unter der dortigen Jugend angeblich an Überschwang blüht, wandeln Ernst und Hilla wie lebendige Leichen durch das zerstörte Paradies ihrer Kindheit.
Hilla hatte zwei Jahre nach Kriegsende auch noch ihre Mutter verloren. Diese konnte den Verlust ihrer Söhne nicht verkraften und hat sich immer mehr in sich selbst zurückgezogen. An einem Frühlingstag im März, es war der Geburtstag ihres ältesten Sohnes, war sie alleine zu einem Spaziergang in die schneebedeckten Berge aufgebrochen. Weder Hilla noch ihre Schwester Sigrun durften mitkommen. Abends kam die Mutter nicht wieder, und am Tag darauf fand man ihren Körper unten in der Schlucht. Am Ufer des Gebirgsbachs, an dem Hilla im Sommer so gerne spielte, lag die Mutter mit merkwürdig verdrehtem Kopf. Es war ein Unfall, hieß es. Die Wege seien noch glatt gewesen. Aber Hilla war sicher, dass ihre Mutter ihren Tod geplant hatte. Alles war aufs Peinlichste geordnet, und sogar ihren Schmuck hatte sie per Brief ein paar Wochen zuvor gerecht auf ihre beiden Töchter verteilt. Entsetzlich verlassen hat sich Hilla gefühlt, als sie die Mutter in der Frühlingssonne zu Grabe getragen haben. Aber schlimmer noch als das Gefühl der Einsamkeit war ein Wissen um ihre tiefe Wertlosigkeit, die am Grab in Hillas Herz einzog. Warum war die Mutter nicht noch ein wenig geblieben? Hilla war erst zwölf und wurde von da an von ihrer älteren Schwester versorgt. Aber Sigrun hatte andere Pläne. Nach ihrer Blitzkarriere als Wunderkind mit Zither wollte sie Opernsängerin werden und hatte sich in Salzburg um einen Platz am Konservatorium beworben. Drei Tage nach der Beerdigung der Mutter kam die heiß ersehnte Zusage. Nie wird Hilla den Schrei vergessen, mit dem Sigrun ihrem maßlosen Zorn darüber Luft machte, dass sie ihre Karriere am Konservatorium mit dem Tod der Mutter ebenfalls beerdigen sollte. Aber am Tag darauf zog sie gehorsam den
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