Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
der das Straßenbahnhäuschen steht. Als der Cowboy vorhin mit Molly der Straßenbahn Vorfahrt gewähren musste, bevor er in die enge Hauseinfahrt fuhr, hatten Miriam und Anna-Sophie sich die Ohren zugehalten. Die Straßenbahn gibt in der Kurve die Art von Kreischen von sich, das wehtut. Nur eine Münchner Straßenbahn bringt so einen Ton zustande, darin waren der Cowboy und der Junge sich einig gewesen. Bene hatte Joe für sein Können bewundert. Er hatte es für unmöglich gehalten, dass Mollys ausladende Kotflügel durch die Öffnung der Toreinfahrt passen würden. Aber das war vorhin, als es noch Hoffnung auf ein warmes Bett für die Nacht gab.
»Vorsicht, glatt!«
Während Bene seine Tante vorsichtig über das Kopfsteinpflaster und die bläulich schimmernden Schlangen zu dem Wartehäuschen führt, ist er voller Verachtung für den Mann, den er vor ein paar Stunden noch bewundert hat. Wieder eine Memme. Es gab zu viele davon in der letzten Zeit. Diese Erkenntnis macht Bene zunehmend wütender. Ein einziges Mal nur möchte er einen Mann länger als einen halben Tag bewundern dürfen. Bene ist nur noch sauer.
»Hör endlich auf, wegen der blöden Puppe zu jammern!«, zischt er seiner Schwester zu. Bene fühlt sich überfordert und weiß zudem, dass er auf Miriam im Moment nicht zählen kann. Wie immer, wenn sie voller Verzweiflung ist, agiert seine Tante eine Zeit lang völlig unbrauchbar. Bene muss dann die Führung übernehmen. Im Moment versucht er sich zu konzentrieren, um einen Plan zu fassen, wie es jetzt weitergehen könnte in dieser schrecklich kalten Nacht, aber dazu muss seine Schwester mit dem Weinen aufhören. Bene versucht, zumindest ein Kurzzeitziel anzuvisieren. Wartehäuschen, dann Straßenbahn oder Bus, je nachdem, welche Linie sie wohin nehmen wollen. Bahnhof wäre gut. Miriam hat etwas von Dresden gemurmelt, wo sie vielleicht eine Zeit lang noch einmal bei diesen Freunden unterkommen können, bei denen es so schrecklich war. Aber schrecklich kann Bene inzwischen aushalten. Schrecklich ist besser als kalt, hungrig und schrecklich. Vor allem wegen des Babys müssten sie bald aus der schneidenden Kälte raus. Miriam müsste schlafen oder zumindest sitzen. Bene kennt sich in dieser Straße aus. Die kreischende Kurve ist Teil seines Weges von der Schule zum Hallenschwimmbad, wo er mit seiner Klasse im letzten Halbjahr auf das bronzene Schwimmabzeichen hingearbeitet hatte. Jeden Donnerstag ist er an dieser Haltestelle vom Bus in die Straßenbahn umgestiegen.
In dem Wartehäuschen führt der Junge Miriam zu dem schmalen Plastiksitz hinten in der Ecke. Da müsste es halbwegs in Ordnung sein. Das nach vorne offene Häuschen mit der erleuchteten Werbetafel bietet in der hintersten Ecke zumindest Schutz vor den Schneenadeln. Warum hat seine Tante Miri schon wieder keine Handschuhe mehr an? Noch vor wenigen Tagen hatte Bene in der Schule ein Paar für sie mitgehen lassen. Seine Lehrerin hatte sie achtlos in der Klasse liegen gelassen. Aber die sind wohl schon wieder weg. Umsonst wühlt Bene in der riesigen Tasche. Aber Miriams Hände sind eiskalt. Fürsorglich zieht er ihr deshalb jetzt seine Handschuhe über die von Kälte verfärbten Hände. Miriam lässt es zu. Abwesend und willenlos starrt sie auf die Werbetafel vor ihr. Die grelle Werbung eines Reisebüros lockt mit Strand und Palmen an einem türkisblauen Meer, von hinten beleuchtet und definitiv unpassend in dieser eisigen Nacht. Miriam meint das feine Summen der Lichtanlage wahrnehmen zu können. Ihr abwesendes Lächeln ist das einer Kopfreisenden. Darin hatten sie alle drei Übung. Reisen im Kopf waren in den letzten Wochen ein beliebter Zeitvertreib gewesen, wenn das Geld mal wieder nicht für ein Abendessen gereicht hatte. Zum Ausgleich gab es beim Schlafengehen die schönsten Reisen.
»Thailand! Das wäre jetzt schön, nicht wahr?«
Miriam lächelt immer noch, aber sie sieht Bene nicht an, und er weiß, warum. Er soll ihre trockenen Tränen der Angst nicht sehen. Die Angst ist wieder da. Sie ist größer und erstickender als vorhin auf dem Christkindlmarkt. Bene sieht es und wendet sich schnell ab. Miriam braucht jetzt Zeit für sich, um mit ihren inneren Monstern klarzukommen. Er schämt sich für seinen Versuch, zu ihr durchzudringen, denn natürlich kann sie jetzt dieses Spiel nicht mitmachen, das sie seit dem Tod seiner Eltern so oft gespielt haben. Es ist jetzt alles anders geworden. Damals drohte die Welt nicht ganz über ihnen
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