Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
Joe?«
»Nein, Schatz, das können wir leider nicht.«
»Joe war nett …«
Miriam sagt nichts. Sie sieht sich erneut mit ihrem menschlichen Scheitern konfrontiert. Sie trägt eindeutig die Schuld daran, dass Joe nicht mehr ihr Freund ist und Anna-Sophies Papagena in seinem Übungskeller liegt. Auf keinen Fall will Miriam den Keller noch einmal betreten, aber sie will auch nicht, dass Anna-Sophie unglücklich ist. Sie zieht das Mädchen zu sich auf den Schoß und will von der Puppe sprechen, als das Mädchen ihr zuvorkommt.
»Vielleicht können wir doch wieder nach Hause …?«
»Was meinst du?«
»Irgendwann gehen alle schlafen … und wir haben immer noch unseren Schlüssel.«
»Stimmt, aber unsere Wohnung ist sicher verplombt.«
Schweigen, gefolgt von einem kurzen Moment des Unwohlseins. Anna-Sophie kann mit dem Wort nicht viel anfangen und hat ihre eigene Vorstellung.
»So eine Plombe wie eine In-den-Zähnen-Plombe?«
»Nein, eher eine Hier-kannst-du-nie-mehr-rein-Plombe … das ist wie ein Klumpen aus Blei.«
»Hm. Na gut. Können wir jetzt meine Puppe holen?«
Der Münchner Hauptbahnhof präsentiert sich in Wind und Schnee eher desolat, obwohl er an diesem Abend zusätzlich zu den tristen Gestalten von einem Filmteam mit Scheinwerfern bevölkert wird. Die Leute vom lokalen Fernsehsender breiten sich auf dem Vorplatz aus, auf dem sonst in einer Reihe die Taxen stehen. Joe erkennt die beliebte Münchner Geschichte, die hier gerade gedreht wird, auf Anhieb. Ein Schauspieler trägt die Dienstkappe und den Kittel eines altmodischen Gepäckträgers sowie ein paar besonders elegant geschwungene Engelsflügel. Ein Münchner im Himmel wird schon wieder gedreht. Trotz der Kälte steigt Joe aus, um in den Bahnhof zu gehen. Er nimmt die Puppe mit, die das Mädchen sicher schon vermisst, als ein Kollege auf ihn zukommt. Joe begrüßt den älteren Fahrer aus Polen, der versucht, im Schneegestöber eine Zigarette zu rauchen. Joe fragt nach Miriam und den Kindern, aber keiner der Kollegen hat sie gesehen. Auch der Penner vom Bahnhofseingang weiß nichts. Nachdem Joe weitere Umherstehende gefragt hat, ist er sich mit einem Mal nicht mehr sicher, ob die drei mit dem Schein von Conni wirklich ein Taxi zum Bahnhof genommen haben. Zwanzig Euro sind viel Geld, wenn man gar nichts mehr hat. Joe sieht dem alkoholisierten Penner zu, der großzügig mit Zigaretten und Glühwein von der Filmproduktion versorgt wird, damit er im Bild bleibt. Die drahtige Regieassistentin hätte auch Molly und Joe sehr gerne mit im Bild. Molly sei ein ungewöhnlich schönes Taxi, fügt die Drahtige mit einem Augenzwinkern hinzu, das ihr bestimmt auch außerhalb des Sets viel Sympathie einbringt. Ihr vielversprechendes Frauenzwinkern erinnert Joe mit sanftem Prickeln an sein Singledasein. Sein einfaches Ja könnte diesem schwierigen Abend eine vergnügliche Wendung geben, aber die scheußliche Puppe in seiner Hand erinnert ihn an ein kleines Mädchen, dem er heute im Kindergarten als Josef etwas versprochen hat.
Miriam nimmt es ruhig zur Kenntnis, als Bene ihr sagt, dass die nächste Tram in Richtung Hauptbahnhof erst in zwanzig Minuten kommen wird. Sollen sie doch ein Taxi nehmen? Miriam verneint, denn sie brauchen das Geld. Dann versucht sie, ein Lächeln auf Anna-Sophies unglückliches Gesicht zu zaubern. Miriam hat Bene gebeten, wegen der vermissten Puppe doch noch einmal zurück in den Übungsraum zu gehen, aber Joe war mit der Puppe bereits zum Bahnhof gefahren. Dort würde Miriam dem Cowboy wohl oder übel noch ein letztes Mal begegnen müssen. Die Freunde hatten versprochen, ihm eine Nachricht auf seinem Handy zu schicken. Doch zunächst versucht Miriam das weinende Kind zu beruhigen. Anna-Sophie ist übermüdet und völlig außer sich, weil nun auch das letzte bisschen Sicherheit in ihrem Leben verschwunden ist. Miriam nimmt sie in die Arme und bittet sie, ihre Augen zu schließen. Dann geht die Fahrt geradewegs nach oben in den Himmel zu einer ganz bestimmten Wolke, schöner als alle anderen Wolken. Es ist die Papa-und-Mama-Wolke, die auf einer Seite einen silbern schimmernden Rand hat, von dem unzählige silberne Traumseile, aber auch feinere Traumfäden bis hinunter auf die Erde hängen. An einem dieser Traumfäden darf Anna-Sophie jetzt nach oben zu dem dickeren Traumseil klettern, an dem es eine Art Aufzug gibt, geradewegs in die Arme von Mama und Papa.
Joe hat das Gefühl, als wüsste Molly von alleine, wo sie hinfahren muss.
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