Mariana: Roman (German Edition)
abgeschlossene Tür zu öffnen? Ich könnte mich verletzen.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Es würde die Rückblende einfach an Ort und Stelle unterbrechen, denke ich. Die Mariana der Vergangenheit würde die Tür öffnen und irgendwohin hinauseilen wollen, aber du würdest zurückgehalten.« Er blickte erneut voll Neugier auf mein feuchtes, zerzaustes Äußeres. »Wohin hat sie dich überhaupt geführt heute morgen?«
Ich trank den Likör aus und stellte das Glas entschlossen auf den Tisch. »Komm mit«, forderte ich ihn auf und erhob mich. »Ich zeig’s dir.«
»Wie, jetzt?« Er warf einen erschrockenen Blick zum Küchenfenster. »Bei dem Wetter?«
Es regnete wieder, leicht aber beständig, und ich konnte das Wasser durch die Dachrinne hinuntergurgeln und sich zu einem schlammigen kleinen Teich beider Hintertür sammeln hören.
»Ich dachte, wir könnten vielleicht das Auto nehmen«, erklärte ich mit übertriebener Geduld. »Ich war heute morgen schon im Regen spazieren.« Ich hielt mein durchweichtes T-Shirt zum Beweis von mir ab.
Tom lächelte. »Eindeutig. Willst du dich nicht zuerst noch umziehen?«
»Das sollte ich wohl besser.« Ich sah an mir herab. »Warte solange, ich bin gleich wieder da.«
Ich brauchte wirklich weniger als fünf Minuten, um in ein Paar trockene Jeans und einen leuchtend roten Pullover zu schlüpfen, meinen alten Anorak überzuwerfen und meinem Bruder zum Auto hinaus zu folgen.
»Welche Richtung?« fragte Tom, als er den Rückwärtsgang einlegte.
»Am Ende der Auffahrt nach links und dann die rechte Abzweigung, wenn wir den Fluß überquert haben.«
Tom befolgte meine Anweisungen in folgsamem Schweigen, fuhr seinen sportlichen Ford über die kleine Brücke und bog dann von der Hauptstraße ab, um der schmaleren, weniger befahrenen Route zu folgen.
»›Old Marlborough Road‹«, las er das Schild. »Bist du auf diesem Weg gekommen?«
Ich nickte. »Ja, ich glaube.«
Wenige Minuten später war ich mir sicher, als die Bäume weniger wurden und die hügelige grüne Landschaft von Wexley Chase sich zu unserer Linken ausbreitete. Die Straße war geteert und naß vom Regen – wenn ich hier gegangen war, so hatte ich keine Spuren hinterlassen –, aber die idyllische Szenerie hatte einen lebhaften Eindruck in meinem Gedächtnis hinterlassen.
Sie hatte sich in dem Zeitraum von einer Stunde oder mehr, seit ich sie zuletzt gesehen hatte, verändert. Moderne Häuser drängten sich am Straßenrand und ragten aus den Wiesen, auf denen einst Schafe geweidet hatten. Es gab Bäume, wo vorher keine gewesen waren, und kahles, flaches Land, wo ein Wald gestanden hatte. Und doch war mir die Straße so vertraut wie die Straßen meiner Kindheit, und als wir die Anhöhe erreichten und hinab nach Wexley Basset fuhren, konnte ich einen kleinen, aufgeregten Schauer des Wiedererkennens, wie bei einer Heimkehr, nicht unterdrücken.
Es war im Grunde ein nichtssagender kleiner Ort – nur ein paar Geschäfte um den quadratischen Marktplatz verteilt, restaurierte Fachwerkfassaden, die mit viktorianischen Häusern aus roten Ziegeln und der häßlichen Zweckmäßigkeit moderner Gebäude wetteiferten. Wie in vielen englischen Kleinstädten zeigte sich auch hier eine merkwürdige Mischung verschiedener architektonischer Stile und Phantasien, ein durch Tradition gemilderter Fortschritt, und insgesamt ergab sich der Eindruck eines recht liebenswerten Kompromisses.
Das mittelalterliche Marktkreuz, das nach meiner Erinnerung mitten auf dem Platz gestanden hatte, war verschwunden, vielleicht einem Feuer zum Opfer gefallen oder der Modernisierung oder einfach dem Zahn der Zeit. An seiner Stelle stand die einigermaßen gelungene Statue eines strengblickenden Mannes, der nach der Mode der Regentschaftszeit Georgs des Vierten gekleidet war; zweifellos handelte es sich um einen der nüchternen Stadtväter des vergangenen Jahrhunderts.
Tommy parkte den Wagen im Schatten der Statue und wandte sich in seinem Sitz zu mir um.
»Das ist ein ganz schöner Marsch«, bemerkte er. »Fast sieben Kilometer. Du mußt mehr als eine Stunde pro Strecke gebraucht haben.«
»Wahrscheinlich. Aber es kam mir natürlich nicht so lange vor, weil ich in Begleitung war.«
»Was für eine Begleitung?«
»Rachel.«
»Wer?«
»Rachel«, wiederholte ich, bevor mir klar wurde, daß all diese Menschen aus der Vergangenheit, die mir schon so vertraut schienen, Tom völlig unbekannt waren. Sie waren Fremde aus einem fernen Land,
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