Mariana
versuchte sie zu überreden, er machte ihr Versprechungen oder auch Vorwürfe und ließ sich sogar zu Zornesausbrüchen hinreißen.
«Wir lieben uns doch, oder nicht?» argumentierte er. «Na also, wozu dann das ganze Theater?»
Er war wütend auf sie. «Du hast keine Ahnung, was Liebe heißt», oder «Du bist eine prüde, kleine, englische Miß, weiter nichts. Ein dummes Schulmädchen bist du.»
Mary weinte oft, wenn sie nach Hause kam, und warf sich angezogen aufs Bett, ganz verwirrt und unglücklich. Sie wußte, daß sie recht hatte. Sie brauchte gar nicht darüber nachzudenken. Aber von ihrem Instinkt einmal abgesehen, hatte sie Angst. Nur — wie konnte sie Pierre das sagen? Es klang so wenig erwachsen.
Eines Abends aß sie bei ihm zu Haus in der Avenue Henri Martin. Außer ihr waren nur noch zwei andere Gäste da, ein Geschäftsfreund von M. Matthieu und dessen Frau, die unerhört soigniert, witzig und lebhaft war, und deren Augen denselben harten Glanz besaßen wie die Smaragde um ihren Hals. Mary fühlte sich neben ihr wie eine in Sackleinewand gekleidete Taubstumme. Am Abend zuvor hatte sie einen Streit mit Pierre gehabt, und nach einer unruhigen Nacht sah sie blaß und müde aus. Sie trug ein einfaches, schwarzes Abendkleid mit Pierres Gardenien am Ausschnitt und überlegte, ob sie sich in roten Pumphosen und einer Straußenfeder im Haar nicht wohler fühlen und sehr viel unterhaltender sein würde. Pierre, der ihr gegenübersaß, sah sie oft an, aber er sprach kaum mit ihr, er widmete sich ganz dem zauberhaften Wesen an seiner Seite. Sie lachten viel und machten Unsinn zusammen. Wahrscheinlich vergleicht er mich mit ihr, dachte Mary, und auf die liebenswürdigen Versuche von M. Matthieu, sie aus ihrer Reserve zu locken, ging sie nicht ein.
Nach dem Essen jedoch, als Pierres Mutter eine Partie Bridge vorschlug, erklärte er, er ginge mit Mary tanzen. Sie verabschiedeten sich höflich rundum, während die anderen schon am Spieltisch saßen und Madame Matthieus diamantenüberladene Finger mit unvorstellbarer Schnelligkeit die Karten mischten.
Jedem anderen als Pierre hätte Mary vorgeschlagen, sie nach Hause zu fahren, damit sie nach vielen, späten Nächten zum erstenmal wieder richtig ausschlafen könne, aber Pierre war abends immer von einer derartigen Unternehmungslust erfüllt, daß es für ihn undenkbar gewesen wäre, einmal nicht auszugehen.
Ein Diener brachte ihr ihren Mantel in die Säulenhalle, verbeugte sich und entließ sie in die warme Maiennacht. Mary wäre gern noch ein wenig durch die stillen, verträumten Straßen geschlendert, aber der Wagen stand vor dem Portal, und um jede Diskussion zu vermeiden, stieg sie ein. Pierre schoß davon, daß der Kies knirschte, und während er die angeberische Dreiklanghupe ertönen ließ, bog er in die Straße.
«Wo fahren wir hin?» fragte Mary und dachte, wie oft sie in den letzten Wochen wohl diese Frage gestellt haben mochte. Immer hatte Pierre die Entscheidung getroffen. Er wußte alles, was es über das Pariser Nachtleben zu wissen gab, und er wußte stets, wo man mit einer Frau hingehen konnte. Niemals gab es diese tristen Augenblicke, wie sie Mary ein paarmal in London erlebt hatte, wenn ihr Begleiter in dem Taxi, das sie — meist durch ihre Initiative — nach dem Theater ergattert hatten, sich ihr zuwandte, an seinem Schlips zupfte und verlegen fragte: «Wo möchten Sie gern hin?» Wie konnte sie etwas vorschlagen, wenn sie nicht mal wußte, wieviel Geld er hatte. Diese Situationen pflegten des öfteren damit zu enden, daß der Betreffende sich vorbeugte und durch die Scheibe Erkundigungen bei dem Taxichauffeur einzog, der dann unweigerlich ein Lokal nannte, dessen einziger Vorzug darin bestand, daß der Portier dort ein Freund von ihm war.
Auch heute abend wußte Pierre wieder, wo sie hingehn würden. «Ich führ dich in ein Lokal, wo du noch nie gewesen bist», sagte er. «Es ist nicht aufregend, es ist nicht schick, aber ich möchte gerade heute gern mit dir dorthin.»
«Ja, gut», sagte Mary, lehnte sich zurück und beobachtete, wie seine kräftigen, gut manikürten Hände das Lenkrad des hochtourigen amerikanischen Wagens drehten, während sie um den Etoile fuhren. Er schien stiller als sonst. Im allgemeinen schwatzte und lachte er, neckte oder küßte sie, wenn sie nachts durch die grell erleuchtete Stadt fuhren. Es sah ihm nicht ähnlich, in Gedanken versunken zu sein. Bald ging es durch enge Straßen mit vielen Windungen und
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