Mariana
und der nagende Schmerz würde nie mehr aufhören. Mary stöhnte leise. Aus der Pelzvermummung heraus, mit der Mrs. van de Meyer ihre Kehle gegen den Nebel zu schützen versuchte, richtete sich ihr Pincenez funkelnd auf das Mädchen.
«Was ist denn, Mary, ist Ihnen nicht gut? Um Himmels willen, Sie sehen ja entsetzlich aus. Mein armes Kind, was fehlt Ihnen denn? Ich werde gleich —»
«Mir fehlt gar nichts, wirklich nicht. Sobald ich zu Hause bin, ist alles wieder in Ordnung. Bestimmt, es ist nichts. Bitte, Mrs. van de Meyer-» Aber Mrs. van de Meyer strömte über von Güte und Mitgefühl, und sie machte einen derartigen Wirbel, daß es einfach überwältigend war. «Bitte nicht», wiederholte Mary schwach, als Mrs. van de Meyer auf ihrem Sitz auf und ab wippte und sich über sie hinwegbeugte, um Sam mitzuteilen: «Mr. Howard, Mary geht’s nicht gut. Bitte, halten Sie an einer Apotheke, wir müssen schnell irgendwas besorgen.»
Es gelang Sam, die Wogen etwas zu glätten, indem er darauf hinwies, daß sie fast am Ziel seien, aber trotzdem schnellte sie vor und zurück, spähte durch die Windschutzscheibe, wandte sich dann Mary wieder zu und erstickte sie fast mit ihrer Fürsorge, ihrem Geschwätz, ihrem Gejammer. Sie hielt nicht einen Augenblick den Mund und wollte unbedingt zu einer Apotheke.
«O Gott, Mrs. van de Meyer», flüsterte Mary vor sich hin, «können Sie nicht mal aufhören?»
«Anscheinend nicht», murmelte Sam, der sich noch immer ganz auf die Straße konzentrierte. Von draußen hörte man körperlose Stimmen, und einmal wurde der Nebel durch ein grelles Licht zerrissen, und nur das Gesicht eines Mannes tauchte auf, der Unverständliches, aber dem Tonfall nach Ermunterndes brüllte. Es dauerte noch eine Ewigkeit, bis sie nach London hineinkamen und aus der Autoschlange ausscheren konnten. Die Sicht war etwas besser geworden, und das Licht der Straßenlaternen drang durch den sich lichtenden Nebel. Sam gab Gas, flitzte um die Ecken, bremste scharf an den Kreuzungen und brauste weiter. Er schien sich genau auszukennen. Mary lehnte sich zurück und schloß die Augen. Die Ratte schien sich unaufhörlich im Kreis zu drehen und ihr Kopf merkwürdigerweise auch.
«Wo sind wir denn?» fragte Mrs. van de Meyer, «irgendwie kommt mir die Gegend bekannt wor.»
«Am Berkeley Square.»
«Aber nein, Sie sollten doch zuerst Mary nach Haus bringen. Das ist aber ärgerlich. Bitte fahren Sie zum Sloane Square, ich fahre dann später ins Hotel zurück. Ich muß sie erst nach Haus bringen. In diesem Zustand lasse ich sie nicht allein. Bitte fahren Sie weiter, Mr. Howard», sagte sie, als Sam hielt und die Autotür wie durch Zauberei von außen geöffnet wurde. Halb drin, halb draußen protestierte sie, aber Sam ließ sich nicht beirren, beruhigte sie, und Mary sagte: «Ich fühle mich wirklich ganz gut, und außerdem ist meine Mutter zu Hause, es ist alles in Ordnung, ich bin —» Ihre Zähne schlugen so aufeinander, daß sie kaum sprechen konnte, und am liebsten hätte sie geweint, geschrien und einen hysterischen Anfall bekommen.
Endlich fuhren sie ab, und die besorgte Stimme auf dem Trottoir verhallte, als habe sie nie existiert. Die Schmerzen in Marys Körper konzentrierten sich auf einen Punkt, und dann strahlten sie wieder nach allen Seiten aus, manchmal bis hinauf ins Gehirn, so daß alle Nerven in ihrem Kopf vibrierten.
Der unerträgliche Schmerz und Mrs. Bagots Mantel — beides war für alle Zeiten miteinander verbunden.
«Sloane Square?» fragte Sam, «und die Adresse?» Und irgend jemand, vielleicht war es Mrs. Bagot, antwortete: «Marguerite-Street 44.»
Sam hielt, stieg aus, und sie sah ihm nach, wie er die drei Stufen zu ihrer eigenen, roten Haustür hinaufsprang. Sie wollte ihm nachrufen, daß er gar nicht erst zu klingeln brauche, weil Doris Ausgang habe und Mama erst spät nach Haus komme, aber das war alles viel zu mühsam. Sie kam sich völlig überflüssig vor, ohne jeden eigenen Willen. Irgend jemand würde sie irgendwann ins Bett bringen, und dort würde sie sterben.
Da war er schon zurück. «Es macht keiner auf. Das Telefon klingelt, wahrscheinlich ist es Mrs. van de Meyer. Wo ist Ihr Hausschlüssel?» Er nahm ihre Tasche und kramte darin herum. «Zum Teufel, keiner da, Sie kleines Schaf.» Die Autotür schlug zu, und schon rollten sie wieder los — fahren, fahren, es gab nichts anderes mehr als fahren.
«Nicht schlappmachen», sagte er, «tut’s sehr weh?» Tut’s sehr weh! Wo
Weitere Kostenlose Bücher