Mariana
Athelney Moors und sehnte sich nach Sam.
«Kopf hoch, Liebling, es sind ja nur zehn Tage», sagte ihre Mutter, die vor Neugier fast zersprang. Es kostete sie ungeheure Mühe, Mary nicht nach dem hochgewachsenen, höflichen, jungen Mann zu fragen, den sie ein- oder zweimal im Krankenhaus getroffen hatte. Zweifellos hatte es eine besondere Bewandtnis mit ihm, da er nie erwähnt wurde. Dagegen spielte er in den etwas wirren Telefongesprächen von Mrs. van de Meyer eine große Rolle, und durch sie wußte Mrs. Shannon auch, daß er Sam Howard hieß.
Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich vorsichtig an das heikle Thema heranzutasten.
«Weißt du, Mary», sagte sie und trank ihren Kaffee in kleinen Schlucken wie ein Vogel, «im großen und ganzen bin ich eigentlich eine recht gute Mutter gewesen.»
«Stimmt», sagte Mary, «aber wie kommst du so plötzlich darauf?»
«Ach, nur so. Ich dachte gerade, daß sich sicher nicht viele Mütter damit abfinden würden, wenn ihre Töchter sie so im Ungewissen lassen, wie du das tust.»
Mary wußte genau, worauf ihre Mutter hinauswollte.
«Reden ist Silber, Schweigen ist Gold», sagte sie.
«Ja, ja, ich weiß. Es macht mir ja auch nichts aus, aber — na ja, sogar Julia erzählt ihrer Mutter, wenn sie sich in einen Schlagersänger verliebt hat», sagte Mrs. Shannon wehmütig.
«Ach, Mama, du tust mir ja so leid. Hast du’s sehr vermißt, daß ich dir keine Herzensgeheimnisse anvertraut habe und du mir als verständnisvolle Mutter beistehen konntest? Weiß der Himmel, wir hätten ganz komische Gespräche führen können, ich war seinerzeit in ein paar recht ausgefallene Typen verliebt.»
«Du hattest mir ja nicht mal gesagt, daß du die Verlobung mit Pierre löst, bis du mich gebeten hast, den Brief an ihn in den Kasten zu werfen. Ich meine, man möchte doch gern wissen, woran man ist.»
«Du würdest es ganz London erzählen, angefangen bei den Mädchen in der Telefonzentrale», sagte Mary und stand auf. «Komm, wir gehen ins Abteil zurück, solange der Zug hält. Du brauchst mich nicht so komisch anzusehen. Ich verberge keinen geheimen Gram vor dir. Wenn ich blaß aussehe, dann deshalb, weil ich heute kein Rouge aufgelegt habe, und wenn ich Ringe um die Augen habe — und ich habe welche, ich hab’s schon heute morgen gesehen — , dann kommt das daher, weil ich müde bin. Das ist alles. Ehrenwort!»
Sie war wirklich müde. Allein das Kofferpacken und der Weg zum Bahnhof hatten sie angestrengt. Sie fühlte sich erschöpft, und an der Stelle, wo der Blinddarm gesessen hatte, verspürte sie einen dumpfen Schmerz.
Die ersten Tage in St. Justin’s verbrachte sie mit Schlafen und Ausruhen, freute sich an einem guten Buch und war gespannt, wann Sam wieder schreiben würde. Gleich am ersten Morgen band ihre Mutter sich ein rotes Tuch um den glatten, dunklen Kopf und brach entschlossen zu einem weiten Spaziergang auf. Das Hotel lag auf einem Hügel, hoch über dem Meer, und nachdem sie eine halbe Meile weit die Auffahrt hinunter und wieder herauf spaziert war und sich von dem salzigen Seewind hatte durchpusten lassen, kam sie in ihrem zierlichen, tadellos sauberen Schuhchen wieder herein, zog ihre Schweinslederhandschuhe aus und bestellte sich einen Cherry Brandy. Dann blätterte sie geistesabwesend in irgendwelchen Modezeitschriften, und als sie es nicht länger aushalten konnte, meldete sie ein Gespräch mit ihrem Geschäft an. Danach fühlte sie sich sehr viel glücklicher und verbrachte die restliche Zeit des Aufenthalts damit, mit London zu telefonieren, Telegramme zu schicken oder mit vertrockneten, alten Leutchen, die sie aufgegabelt hatte, Bridge zu spielen. Jede Unterhaltung, gleichviel mit wem, war besser als keine.
Mary begann sich zu erholen, aber dafür langweilte sie sich. Reiten durfte sie nicht, ja, sie durfte nicht einmal ihre Unruhe durch lange Spaziergänge betäuben. Im Hotel gab es entweder ganz junge Leute, so um sechzehn herum, oder ganz, ganz alte Männer und Frauen, die sich nach St. Justin’s geschleppt hatten, um dort zu sterben. Sie hörte sich die Lebensgeschichte des Barmixers an, die denkbar öde war, bewunderte die Fotos mit den Kindern des Stubenmädchens, die denkbar häßlich waren, schrieb Briefe oder schlenderte zu dem reizvollen, kleinen Hafen, wo die Möwen den ganzen Tag schreiend um die geschlossenen Teestuben am Kai kreisten.
Sie zog sich gerade zum Abendessen um, als der Page — der mit dem Stimmbruch — an die Tür
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