Mariana
klopfte und teils im Diskant und teils im Baß meldete: «Ein Anruf für Sie, Miß.»
Ihr Herz klopfte stürmisch. Sie zog sich hastig das Kleid über, zerrte den Reißverschluß zu, schlüpfte in irgendwelche alten Schuhe, und ungekämmt und ungepudert raste sie den Flur entlang und die Treppen hinunter zur Telefonzelle. Als sie am anderen Ende der Leitung eine Frauenstimme vernahm, wurde ihr Herz bleischwer, aber es war nur das Fräulein vom Amt.
«Bleiben Sie bitte am Apparat», und dann hörte sie Sams Stimme, weit entfernt und ziemlich ungeduldig.
«Hallo, hallo, Zentrale —»
«Ich bin’s! Mary.»
«Hallo, Liebling, wie schön, deine Stimme wieder zu hören. Was machst du denn in Cornwall? Warum hast du mir nicht gesagt, daß du dorthin fährst? Wann kommst du zurück?» Er feuerte eine Frage nach der anderen ab, ohne die Antwort abzuwarten.
«Hör mal, Mary, mein Süßes, ich hab über Weihnachten ein paar Tage frei. Könntest du’s ertragen, wenn ich käme, um Weihnachten mit dir zu feiern?»
«Ob ich’s ertragen könnte? Sam, es wäre himmlisch. Ich bestell gleich ein Zimmer für dich.»
«Mein Engel, ich kann’s kaum erwarten, dich wiederzusehen. Ich komme mit dem Auto, ich denke, daß ich morgen gegen sechs Uhr da bin. Hat deine Mutter auch bestimmt nichts dagegen?»
«Sie wird sich schrecklich freuen. Aber was ist mit deinem Vater? Müßtest du nicht mit ihm feiern?»
«Der alte Deibel ist noch im Ausland. In Österreich, bei irgendeiner verrückten Gräfin. Hör mal, gleich sind die drei Minuten um, und ich hab keine Münzen mehr — ich bin in einer Zelle.»
«Riecht’s da auch wieder so muffig?»
«Ja. Aber das ist nicht so wichtig. Ich hab dir noch nicht gesagt, was ich dir sagen wollte.»
«Was denn, Liebster?»
«Piep, piep, piep», machte das Telefon.
«Ich liebe dich.» Seine Stimme war weg. Mary verließ verstohlen und ein wenig töricht vor sich hinlächelnd die Zelle und ging durch die Halle, an all den Klubsesseln vorbei, aus denen die alten Leute hinter Strickzeug und Romanen getarnt, mit neugierigen Augen, denen nie etwas entging, hervorspähten.
Als Mary am Heiligen Abend erwachte, war ihr erster Gedanke: «Wenn’s doch bloß schon sechs Uhr wäre!» Sie ärgerte sich über jede Minute dieser neun Stunden, die sie nicht mit Sam zusammen verbringen konnte. Die Leute im Hotel kamen ihr noch überflüssiger und trübseliger vor als sonst. Ihr Buch hatte sie ausgelesen, draußen schüttete es, und eine Regenwand verbarg Landschaft und Meer.
Nachdem der Vormittag vorbei war, schöpfte sie Hoffnung, daß es doch noch einmal sechs Uhr werden würde. Sie lag auf ihrem Bett, manikürte sich die Fingernägel, und dann war es Zeit zum Teetrinken. Mrs. Shannon saß wie angewurzelt in dem verqualmten Spielzimmer, und so mußte Mary ihren Tee allein trinken. Wie mit Leim festgeklebt saß sie in ihrem Sessel in der Halle nahe dem Eingang. Sie tat, als ob sie die Zeitung lese, aber jedesmal, wenn sie ein Auto hörte, sah sie auf, und ihr Herz schlug schneller. Viele Menschen kamen an, die die Weihnachtstage dort verbringen wollten. Mary haßte sie alle, weil sie da waren und Sam noch nicht. Einmal kam der Bus und brachte die Gäste vom Londoner Zug: Eine Familie, die recht nett aussah, bis sie den Mund öffnete; ein gutaussehender Mann mit welligen Haaren, der nicht das leiseste Interesse in Mary erweckte, und eine Frau, deren Gesichtszüge und Kleidung so farblos und langweilig waren, daß man ihre Existenz überhaupt nicht wahrnahm. Mary starrte die Leute an, wie man sie und ihre Mutter bei ihrer Ankunft angestarrt hatte, und die Neuankömmlinge, die sich wie üblich in der Defensive befanden, erwiderten den Blick voller Unbehagen.
Ein vierschrötiges, mit Golfschlägern ausgerüstetes Ehepaar traf im Auto ein, und nach ihnen tauchte ein jämmerlich verloren aussehendes junges Paar auf, das vermutlich auf der Hochzeitsreise war, dem man den Weg zum Altar aber besser nicht erlaubt hätte. Nur Sam war noch immer nicht da. Die Vorhänge vor den großen Fenstern in der Halle wurden zugezogen, und Mary hörte, wie der Wind den Regen an die Scheiben peitschte. Während sie geborgen in der Wärme der Hotelhalle saß, dachte sie daran, wie Sam die Landstraße entlangfuhr, ihr entgegen, und wie der Sturm den Regen gegen seine Windschutzscheibe prasseln ließ. Er kam zu ihr. Zu ihr- es war unvorstellbar.
Es war schon sieben Uhr vorbei. Die meisten Gäste waren auf ihr Zimmer gegangen, um
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